Forschung für die Hilfe zur Selbsthilfe

Der Fachkräftemangel macht auch vor der Industrie nicht Halt. Ob Onboarding, Wissenserhalt oder Assistenzsysteme – die Produktionswissenschaft muss Lösungen liefern.

Die Produktionstechnik ist ein sehr anwendungsbezogenes Feld. Schließlich zielen ihre Fragestellungen darauf ab, wie die Produkte hergestellt werden, mit denen wir täglich interagieren. Die Forschenden, die am Produktionstechnischen Zentrum arbeiten, sind deshalb naturgemäß immer sehr nah an den Bedarfen der Industrie. Ein Schmerzpunkt, der dabei immer wieder geäußert wird, ist der Fachkräftemangel, der produzierende Unternehmen vor sehr konkrete Herausforderungen stellt. Sie sehen den Produktionsstandort Deutschland gefährdet, wenn sie die Produktions­kapazitäten nicht mehr durch ausreichend qualifizierte Mitarbeitende sichern können.

So können sie bei der Besetzung offener Stellen oft nicht mehr die gleichen Maßstäbe an Ausbildungsstandards oder Vorerfahrungen anlegen, wie zu einer Zeit, als der Fachkräftemangel nicht so drängend war und es auf eine ausgeschriebene Stelle hunderte von Bewerbungen gab. Damit steigen aber auch die Anforderungen an das Onboarding und die kontinuierliche Unterstützung der Mitarbeitenden. Sprachbarrieren können den Prozess zusätzlich erschweren. Umgekehrt gehen mit den »Babyboomern« auch gerade zahlreiche erfahrene Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand. Um deren über Jahre erarbeiteten Wissensschatz im Unternehmen zu halten und den nachfolgenden Generationen zugänglich zu machen, sind eine stringente Wissens­managementstrategie und gut nutzbare Assistenz- und Managementtools unerlässlich. 

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

In der Konkurrenz um qualifizierte Fachkräfte müssen Firmen außerdem ihre Attraktivität erhöhen. Junge Menschen haben heute hohe Erwartungen an ihre potenziellen Arbeitgeber. Sie möchten, dass diese glaubwürdige Werte verkörpern, die mit ihren eigenen übereinstimmen, und dass diese Werte sich auch in den alltäglichen Geschäftsprozessen niederschlagen. Sie wünschen sich Flexibilität und Agilität, die sich durch New Work äußern können, aber auch durch den intelligenten Einsatz von Technologien wie KI oder Virtual Reality. Und sie wollen Perspektiven für ihre Karriereentwicklung, unter anderem in Form stichhaltiger Weiterbildungskonzepte. 

Vom Unternehmensmanagement über die Produktentwicklung bis hin zur Anwendung auf dem Shopfloor und darüber hinaus entwickeln die Forschenden des Fraunhofer IPK und des IWF der TU Berlin Lösungen, die ihren Partnern aus der Industrie helfen, diese Bedarfe zu bedienen.

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

Gewusst, wie

Wissensmanagement ist eine Aufgabe, die viele Unternehmen vor große Herausforderungen stellt. Denn es ist ein Prozess, der zunächst eine gründliche Bestandsaufnahme erfordert, um eine intelligente Strategie zu entwerfen, die mit den Unternehmenszielen und gegebenen rechtlichen Anforderungen im Einklang steht. Um sie zu implementieren, muss sie außerdem für die Mitarbeitenden leicht durchzuführen und in ihre alltäglichen Arbeitsprozesse zu integrieren sein. Bei all diesen Schritten unterstützen die Expertinnen und Experten am PTZ Berlin mit zahlreichen Methoden und Werkzeugen, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen: von der Abstimmung zwischen einzelnen Abteilungen über die Unternehmensebene bis hin zu ganzen nationalen Wissenschafts- und Innovationssystemen. 

Auf Abteilungsebene sind vor allem die Abstimmung und der Informationsfluss zwischen einzelnen Unternehmenseinheiten schwierige Aufgaben für das Wissensmanagement. Unterschiedliche Informationstypen und Arten von Wissenssammlung sowie fehlende Schnittstellen und Prozesse stellen das Management zuweilen vor ein babylonisches Sprachgewirr. Mithilfe von Methoden des Fraunhofer IPK können Geschäftsführungen Ordnung in das Chaos bringen: Wissensgraphen unterstützen dabei, Entscheidungen und ihre Auswirkungen entlang der Prozesskette nachvollziehbar zu machen und bewahren so vor unvorhergesehenen Kosten und Mehraufwänden. Auch mithilfe von immersiven Extended-Reality-Methoden kann die einheitsübergreifende Kollaboration gestärkt werden, indem Daten angereichert und in gemeinsam bearbeitbare virtuelle Modelle übersetzt werden.

Auf der Ebene einzelner Organisationen, bis hin zu kleinen und mittleren Unternehmen, gibt es viel Nachfrage nach wissenschaftlich fundierten Konzepten und Methoden des Wissensmanagements. Am Fraunhofer IPK werden diese strategisch und operativ verzahnt, wie es neuerdings auch von Standards wie der ISO 30401 und DIN SPEC 91443 gefordert wird. Um deren Einhaltung zu garantieren, »füttern« die Forschenden die entsprechenden Vorgaben direkt in die Funktionsweise der jeweiligen Management- und Assistenzsysteme ein, zusammen mit den Anforderungen und Spezifikationen zum Output des jeweiligen Prozesses. Auf diese Weise können sich die Nutzenden der Lösungen sicher sein, dass bei korrekter Anwendung alle rechtlichen Vorschriften und Qualitäts­ansprüche gewahrt sind.

Auch die Realisierung von Wissensmanagement-Konzepten auf nationaler Ebene unterstützen Fraunhofer IPK-Wissenschaftler: Im Auftrag des Ausbildungsdienstes der brasilianischen Industrie SENAI habe sie Guidelines und eine Toolbox entworfen. Damit können die mittlerweile fast 30 Innovationsinstitute, deren Aufbau das Team ebenfalls konzipiert und begleitet hatte, individuell auf sie zugeschnittene Konzepte zum Wissensmanagement entwickeln und entlang bestimmter Meilensteine implementieren.

Humanzentrierte Produktionsassistenz

Nimmt man den einzelnen Menschen in den Fokus, wird deutlich, wie gut durchdachte Wissensmanagement- und Assistenzsysteme Mitarbeitende entlang ihrer gesamten Karriere begleiten. Schon beim Onboarding kann es für alle Beteiligten extrem hilfreich sein, nicht immer das Rad neu erfinden zu müssen. Eine technisch unterstützte Einführung in die Aufgaben eines neuen Jobs mithilfe eines Tools, das auf den gesammelten Wissensschatz des Unternehmens zurückgreifen kann, vermittelt neuen Mitarbeitenden Sicherheit und entlastet erfahrenere Kolleginnen und Kollegen teilweise von zeitraubenden Übergaben. 

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

So können neue Werkerinnen und Werker oder selbst Kurzzeit-Arbeitskräfte sich mithilfe von Assistenz­systemen schnell in neuen Tätigkeiten zurechtfinden. Webbasierte Apps mit einfach nachvollziehbaren, bildbasierten Schritt-für-Schritt-Anleitungen, wie sie am Fraunhofer IPK entwickeln werden, ermöglichen es dabei sogar Sprachbarrieren zu überwinden und Arbeitskräfte unterschiedlicher Qualifikationsstufen einzubinden. 

Wissenschaftler am IWF der TU Berlin entwerfen darüber hinaus KI-basierte Methoden, die den Wissensschatz eines Unternehmens als intern gehostetes Large Language Modell aufbereiten, und ihn den Mitarbeitenden in Form eines einfach zu bedienenden Chatbots zugänglich machen – eine Art digitaler Helpdesk. Wie sich diese Form des Wissensmanagements strategisch in Unternehmen einbetten und implementieren lässt, untersuchen Wissenschaftlerinnen des Fraunhofer IPK in enger Abstimmung mit dem IWF-Team. 

Auch für Weiterbildung und Qualifizierung werden von Fraunhofer IPK-Forschenden und ihren Partnern inno­vative Ansätze entwickelt. So entsteht beispielsweise gerade eine Plattform, die mithilfe von KI adaptive Lernpfade für individuelle Mitarbeitende generiert und dabei die neuesten Lernmethoden und Entwicklungen am Weiterbildungsmarkt berücksichtigt. Dabei werden sowohl die betrieblichen Anforderungen bedacht, die bestimmte Zielprofile vorgeben, als auch die persönlichen Präferenzen, Lernziele und Kompetenzniveaus der Mitarbeitenden. Expertinnen des Fraunhofer IPK begleiten die Einführung der Lernplattform mit Workshops zu ganzheitlichen betrieblichen Transformations- und Kompetenzentwicklungsstrategien. In einem anderen Projekt entwickelten Fraunhofer IPK-Forschende ein Trainingsprogramm zur Integration von Nach­haltigkeit in produzierenden Unternehmen, das mithilfe von Serious Games effektives Lernen fördert. Es befähigt Einzelpersonen, fundierte Entscheidungen zu treffen, relevante Technologien umzusetzen und ganzheitliche Nachhaltigkeitsstrategien zu entwickeln.

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen
© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen
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Hilfestellung auf dem Shopfloor

Bei der Betrachtung auf Ebene der Fertigungsverfahren lässt sich vor allem zwischen direkter und indirekter Assistenz unterscheiden. Indirekte Assistenz agiert im Hintergrund, während bei direkter Assistenz eine unmittelbare Mensch-Maschine-Interaktion stattfindet. Die direkte Assistenz unterstützt damit vor allem Werkerinnen und Werker auf dem Shopfloor unmittelbar bei der Ausübung ihrer Arbeit. Das kann etwa die oben bereits genannte webbasierte App mit Handlungshilfen sein, die sich neben dem Onboarding auch für zahlreiche andere Anwendungsfälle eignet. So kann sie beispielsweise auch für Wartung und Instandhaltung oder zum Rüsten von Werkzeugmaschinen genutzt werden. 

Virtual- und Augmented-Reality-Technologien können hilfreiche Tools sein, um bei der direkten Assistenz die Schnittstelle zwischen Menschen und Maschinen zu bilden. In der Kombination mit digitalen Zwillingen etwa erlauben sie die einfache Handhabung von Daten und Modellen, die dann wiederum an das reale Objekt übertragen werden können. Um im industriellen Unternehmenskontext richtig zu funktionieren, erfordern diese Technologien ein hohes Maß an Datendurchgängigkeit. Bisher erfolgen Änderungen an einem Produktionsschritt in der Regel manuell. Für eine neue Variante geht zum Beispiel eine geänderte Prozessbeschreibung an die Werkerin oder den Werker, oder aber ein geändertes Programm wird auf die Maschinensteuerung geladen. Dabei können inkonsistente Stände entstehen, etwa durch nachträgliche Anpassungen. Ein interdisziplinäres Team am Fraunhofer IPK strebt die Durch­gängigkeit von der Produktentwicklung bis in die Live-Instruktion und die Maschinensteuerung an, um auf Knopfdruck eine Aktualisierung bei allen beteiligten Entitäten sicherzustellen. Auf diese Art soll auch eine digital integrierte Assistenz möglich werden, so das Ziel eines ambitionierten Forschungsprojekts mit zahlreichen Partnern. Die Digitalisierung und Datendurchgängigkeit entlang der Prozesskette soll hier am Beispiel eines intelligenten, menschzentrierten Assistenzsystems erprobt werden, das mithilfe von AR- und VR-Methoden Schraubanwendungen in der Automobilfertigung unterstützt.

Ein weiteres Beispiel für sehr direkte Assistenz ist die Arbeit mit körperlich unterstützenden Softrobotik-Lösungen, wie sie ebenfalls am Fraunhofer IPK erforscht werden. So wurde das Exoskelett PowerGrasp so weiterentwickelt, dass es nicht nur Kraftunterstützung bietet, sondern auch beispielsweise Bewegungsintentionen und sogar Müdigkeitszustände erkennen kann. 

Indirekte Formen der Assistenz sind dagegen im Wesentlichen Entscheidungshilfen, gestützt auf Datenanalyse. Diese kommen zum Beispiel in der Qualitäts­sicherung zur Anwendung, bei der sensorunterstützte Technologien Mitarbeitenden von eintönigen und konzentrationsintensiven Tätigkeiten entlasten. Auswertungen von Sensordaten können ihnen darüber hinaus eine sichere Datengrundlage für schwierige Auswahl­situationen bieten. So ermöglichen Forschende des Fraunhofer IPK ihren Partnern beispielsweise das In-situ Monitoring additiver Prozesse. Und auch für die Arbeit mit herausfordernden Werkstoffen und Verfahren finden sie innovative Lösungsansätze. So etwa für ein kombiniertes Schweißverfahren für die Arbeit mit Aluminium in der Herstellung von Gehäusen für Elektro­motoren und Batterien. Bei dem komplexen Verfahren gilt es, Porenbildung oder Anhaftungsfehler zu ver­hindern. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer IPK haben deshalb eine Art intelligenten Co-Piloten erfunden, der mittels KI und Sensorik im Fertigungsprozess vor potenziellen Fehlern warnt.