Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Wir befinden uns in einer nicht allzu fernen Zukunft. Ein Automobilzulieferer hat gerade wieder einen Besetzungsengpass, in der Brennstoffzellenfertigung fehlen dringend Fachkräfte. Um seine Aufträge zu erfüllen und die Produktion nicht ins Stocken zu bringen, greift er auf einen tarifvertraglich geregelten Pool von Zeitarbeitskräften zurück. Der Arbeiter, der tags darauf an der Werkzeugmaschine steht, hat diese noch nie bedient. Er zückt ein Tablet, ruft ein webbasiertes Assistenzsystem auf, und macht sich an die Arbeit. Ob beim Einrichten, beim Starten des NC-Programms oder beim Entnehmen der fertigen Bauteile – für alle wichtigen Prozesse bietet das Assistenzsystem eine Schritt-für-Schritt-Handlungshilfe. In dem Assistenzsystem ist umfangreiches Spezialwissen so einfach aufbereitet, dass der Werker komplexe Aufgaben übernehmen kann, die sonst nur mit jahrelanger Übung und Expertise erfüllt werden können. Und das in den vielfältigsten Bereichen: Einen Monat später steht derselbe Werker schon an der Spritzgießmaschine eines Medizintechnikherstellers, wieder einen Monat später führt er hochgenaue optische Messungen von Ventilbohrungen an Nockenwellengehäusen aus. Klingt zu gut, um wahr zu sein? Vielleicht nicht mehr lange!
Eine der grundlegenden Herausforderungen angesichts des Fachkräftemangels in Produktion und Instandhaltung ist die kurzfristige Integration von Menschen unterschiedlicher Qualifizierungsniveaus, insbesondere bei immer komplexer werdenden Fertigungsanlagen, die sowohl mechanische als auch elektronische und digitale Elemente umfassen. Erschwerend wirken zudem sprachliche Hürden, die eine reibungslose Kommunikation und Zusammenarbeit behindern können.
Forschende am Fraunhofer IPK entwickeln deshalb Assistenzsysteme, die auf einfachen mobilen Endgeräten basieren. Ziel ist es, situationsbezogene Informationen bereitzustellen, um den Aufwand für Informations‑recherche oder generelle Koordination, einschließlich Dokumentation, zu minimieren. »Situationsbezogen« ist dabei sowohl der technische Kontext, also welche Aufgabe es unter Nutzung welcher Hilfsmittel zu bewältigen gilt, als auch das Qualifikationsniveau der Mitarbeitenden.
Ein solches Assistenzsystem kann Arbeitskräften, die im Fall vorübergehender Personalengpässe hinzugeholt werden, dabei helfen, Fehler zu reduzieren und Stress durch Unsicherheit zu minimieren. Ein kontinuierlicher Absicherungsprozess im Hintergrund gibt Mitarbeitenden zusätzlich die Sicherheit, nicht auf sich allein gestellt zu sein. Nicht zuletzt ermöglicht dieser Ansatz ein Training-on-the-Job sowie den Aufbau einer Wissensdatenbank durch die Kopplung der eingegebenen Daten und Anweisungen an den digitalen Zwilling der betreffenden Maschine oder Anlage.
Im Rahmen des Projekts ReTraNetz-BB arbeiten Forschende des Fraunhofer IPK an einer allgemeinen Lösung, die in der Anwendung bei Original Equipment Manufacturers (OEMs) im Automotive-Sektor erprobt werden soll. Deren Fertigungsstraßen sind in der Regel hochautomatisiert, dennoch gibt es nach wie vor manuelle Tätigkeiten wie beispielsweise Montagearbeiten. Die Integration von Arbeitskräften stellt sich hier oft als Herausforderung dar – sei es aufgrund von fehlender Expertise von Quereinsteigern oder aufgrund von Sprachbarrieren. Assistenzsysteme ermöglichen einen vereinfachten und häufig sogar sprachunabhängigen Zugang zu Wissen und Handlungshilfen und damit einen flexibleren Einsatz von Arbeitskräften.
Das übergeordnete Ziel der Forschenden ist es, eine Assistenz- und Wissensmanagement-Lösung speziell für die Automobilbranche zu schaffen: Hierdurch sollen Werkerinnen und Werker verschiedener Unternehmen an verschiedenen Arbeitsplätzen vielfältige Tätigkeiten ausführen können. Dies ist besonders relevant vor dem Hintergrund des drohenden Wissensverlustes durch Pensionierungen. Natürlich kann kein Assistenzsystem der Welt gut ausgebildetes Fachpersonal ersetzen, dessen Kompetenz und Erfahrung immer unverzichtbar sein werden. In der Datenbank des Assistenzsystems kann jedoch das wertvolle Erfahrungswissen vorheriger Generationen zumindest einfacher aufbereitet und an ungeübtere Kolleginnen und Kollegen übergeben werden.