Die neue Ergonomie

Erkrankungen durch Fehlhaltungen am Arbeitsplatz sind eine zentrale Herausforderung unserer Zeit. PowerGrasp, der textile Exosuit, beugt ihnen durch Ergonomie- und Kraftunterstützung vor.

Unsere Gesellschaft wird älter. Der demographische Wandel ist kein Zukunftsszenario mehr, sondern in vollem Gange. Das wird besonders bei körperlichen Tätigkeiten deutlich: Erkrankungen des Bewegungsapparates nehmen stetig an Zahl zu. Die Folgen sind temporäre und permanente Arbeitsausfälle, Planungsunsicherheit sowie Ressourcenmangel. Somit sind der Verschleiß und Verletzungen des Bewegungsapparates elementare Herausforderungen unserer Gesellschaft.

Wer 30 Jahre lang Arbeiten am Fließband verrichtet, hat ein Recht auf ergonomisch optimale Arbeitsbedingungen. Ein sicheres Arbeitsumfeld sowie Ergonomie- Schulungen sind hier die halbe Miete. Den Rest könnten zum Beispiel Lösungen aus der Automatisierung leisten. Doch selbst der zunehmende Einsatz von Robotik in Arbeitsprozessen kann keine hundertprozentige Entlastung von schädigenden Tätigkeiten bieten, denn nicht alles lässt sich automatisieren. Der Mensch bleibt jedem Roboter in Bezug auf kognitive und sensomotorische Fähigkeiten und damit Flexibilität weit überlegen. Wenn eine Vielzahl an Arbeitsabläufen also nicht durch Robotik ersetzt werden kann, so muss ergonomisches Arbeiten durch Automatisierung unterstützt werden, die so flexibel und erfinderisch ist wie der Mensch selbst.

PowerGrasp bietet Ergonomie- und Kraftunterstützung.
Im Rückenmodul finden sich Ventile und Steuerungstechnik für die Kraftunterstützung.

Mensch und Maschine

Hier setzen körpergetragene Unterstützungssysteme an. Man unterscheidet zwischen einer reinen Ergonomieunterstützung und Systemen, die zusätzlich Kraftunterstützung leisten. Ergonomische Unterstützung bietet die am Fraunhofer IPK entwickelte ErgoJack®-Orthese, welche Sensoren zur Bewegungserkennung nutzt, um Tragende zu informieren, wenn sie sich ergonomisch kritisch bewegen. Solche Systeme kommen jedoch an ihre Grenzen, wenn bei einer Tätigkeit keine ergonomische Haltung möglich ist. Dazu zählt beispielsweise das Bearbeiten von Objekten auf Überkopfniveau.

Dieses Problem adressieren passive und aktive Exoskelette, indem sie Kraftunterstützung bieten. Das passive Exoskelett wirkt durch mechanische Komponenten wie Federelemente. Diese leiten die Kraft, die der Arbeitende einsetzt, von überlasteten Bereichen in robustere Körperregionen um. Diese Art der Kraftumverteilung hat allerdings auch Nachteile, denn Bewegungen, die keiner Entlastung bedürfen, werden gleichermaßen unterstützt, sodass der Tragende hohe Kräfte aufbringen muss, um die Gewichtsentlastung zu überwinden. Aktive Exoskelette hingegen werden durch elektrische oder pneumatische Komponenten ergänzt. Über eine Bedienkonsole oder auch Sensoren, die die Muskelanspannung direkt messen, werden Bewegungsschritte gesteuert. Die Kehrseite dieser zum Teil sehr schweren, starren und kostspieligen Systeme ist die mögliche Verletzungsgefahr durch Fehlfunktionen. Folglich ist bei beiden Exoskelettarten der Anwendungsbereich beschränkt und wegen ihrer Nachteile werden sie vielerorts eher gemieden. Genau hier setzt PowerGrasp an.



Nichts als heiße (Druck)Luft

Wer schon einmal ein klassisches Exoskelett getragen hat, kann das Gefühl, einem Science-Fiction Film zu entspringen, nachvollziehen. Diese sehr komplexen Konstruktionen sucht man bei PowerGrasp vergeblich, denn der Dual Arm Exosuit bietet maximalen Tragekomfort: Er trägt sich wie eine textile Weste. Auf starre Elemente wird fast vollkommen verzichtet, die Kraftentlastung erfolgt stattdessen durch präzise zugeführte Druckluft. Der Vorgang ist denkbar einfach. Die Bewegungen des Tragenden werden mit Sensoren erfasst und in einer Control Unit analysiert. Anschließend wird in den Schultergelenk-Aktuatoren ein gezielter Luftdruck aufgebaut, sodass eine Oberarmkraftunterstützung zustande kommt.

Die Druckluftflasche ist schnell gewechselt: Das Nachfüllen dauert etwa eine Minute.

Das System muss im Vorfeld weder justiert noch kalibriert werden, sodass man nach dem Einschalten sofort mit der Arbeit beginnen kann. PowerGrasp ist auf 50 bis 150 Überkopfarbeitszyklen ausgelegt. Danach kann die entleerte Druckluftflasche mit wenigen Handgriffen gewechselt und durch Nachfüllen in ca. einer Minute wieder eingesetzt werden. Die Verletzungsgefahr klassischer Exoskelette entfällt, da Nutzende selbst bei Fehlfunktionen gegenarbeiten und die Aktuatorkraft überwinden können. Das Gesamtgewicht des Systems beträgt 6,5 Kilogramm – ein enormer Kontrast zu den 15 bis 20 Kilogramm schweren aktiven Exoskeletten. Statt eines sperrigen Gerüsts befinden sich im Rückenmodul lediglich die mobile Druckluftversorgung und -regelung, ein Akku sowie eine Embedded Control Unit. Das Konzept ist auf nahezu alle Körperbereiche übertragbar und wurde am Fraunhofer IPK exemplarisch für Arm- und Handgelenke umgesetzt.

Produktionsanlagen kommen ohne Menschen nicht aus
Der Single Arm Exosuit unterstützt die Überkopfarbeit.

Ein kreativer Helfer

PowerGrasp schafft es, in seiner Ergonomie- und Kraftunterstützung dem menschlichen Anspruch an Flexibilität und Kreativität gerecht zu werden: Der körpernahe Exosuit arbeitet nicht bloß über den klassischen Kraftausgleich, sondern nutzt darüber hinaus erste neuronale Netze, die ein situationsbedingtes Regeln der Entlastung anbieten. Dadurch soll das System künftig auf die Ermüdung des Nutzenden mit erhöhter Hilfeleistung reagieren können. PowerGrasp wird somit aktuell zu einem System weiterentwickelt, das bei maximalem Tragekomfort und minimaler Verletzungsgefahr die Arbeitsergonomie deutlich verbessert.

Der Dual Arm Exosuit in der Rückenansicht