Warum fünf Millimeter 80 Millionen Euro kosten

Kleine Entscheidungen in der Produkt­entwicklung haben oft schwer abschätzbare Folgen. Wissensgraphen machen komplexe Zusammenhänge übersichtlich.

Ein Automobilzulieferer lässt für einen neu optimierten Motortyp eine neue Nockenwelle entwickeln. Sie ist um fünf Millimeter länger als die Vorgängergeneration, entspricht allen Produktanforderungen und fügt sich nach Prüfung in den Motor ein. Materialkosten – ein paar Euro. So könnte eine Entwicklung ablaufen, in einer idealen Welt. Doch leider ist unsere Welt nicht ideal, und damit um einiges komplexer. Denn den Entwicklerinnen und Entwicklern war nicht klar, was diese fünf Millimeter für andere Unternehmensbereiche bedeuten. In der Logistik können nun weniger Wellen pro Fahrt transportiert werden, und auch die verwendeten Werkstückträger passen nicht mehr. Ein neues Logistikkonzept muss her. Zudem hat die Produktion ihre Probleme mit der neuen Generation. Die bisher verwendete Maschine kann die Welle nicht mehr produzieren. Es wird nach Ersatz gesucht. Doch passt eine teure neue Maschine in das Budget der Produktionsplanung? 

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

Der Schmetterlingseffekt

Sicherlich haben Sie schon einmal die Metapher des Schmetterlings gehört, der durch sein Flügelflattern am anderen Ende der Welt einen Sturm auslösen kann. So werden die Konsequenzen einer kleinen Änderung in einem komplexen System oft komplett unterschätzt. Das Produktentwicklungsteam unserer Beispielfirma konnte die Vielzahl der mit ihren Entscheidungen verbundenen Herausforderungen nicht absehen. Denn die Abhängigkeiten sind häufig nur durch die Fachexpertinnen und -experten für die einzelnen Prozessschritte beurteilbar. Einzelne Zusammenhänge können zwar in IT-Systemen modelliert werden, aber in der Regel gibt es keinerlei Verknüpfung zwischen diesen Informationsmodellen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Es gibt keine Schnittstellen zum IT-System, jedes System verwendet seine eigene Sprache in der Modellierung und Datenablage. Auch prozessual und organisatorisch sind Verantwortlichkeiten intransparent und Wissensträger schwer zu identifizieren. Daher erfolgen Freigaben häufig auf der Ebene einzelner Komponenten oder Baugruppen, wobei größere Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen übersehen werden können. Eine holistische Prüfung erfolgt meist erst nach monatelanger Entwicklungsarbeit, wenn die ersten Prototypen bewertet werden.

Der runde Tisch

Sobald in diesen Prototypentests Probleme identifiziert wurden, setzen sich die beteiligten Bereiche klassischerweise an einen Tisch, um eine Lösung dafür zu finden. Dabei stellt sich vielleicht heraus, dass die Welle auch drei Millimeter kürzer sein kann, wenn ein anderes Bauteil entsprechend angepasst wird. So lassen sich Probleme lösen – nicht effizient, aber effektiv. Vor allem aber reaktiv und deshalb zeitaufwendig, und Zeit ist in der Produktentwicklung Geld. 

Grundsätzlich waren alle Informationen, um den später auftretenden Problemen vorzugreifen, immer im Unternehmen vorhanden. Sie waren nur nicht adäquat aufbereitet und an der notwendigen Stelle zur rechten Zeit verfügbar. Unser Unternehmen hat deshalb ein essenzielles Interesse daran, die Kollaboration seiner Mitarbeitenden im Sinne der kreativen Problemlösung und letztlich der innovativen Wertschöpfung zu verbessern. Die Frage lautet also: Wie lässt sich der Informations- und Wissensaustausch zwischen den einzelnen Bereichen vereinfachen?

Der Schlüssel liegt in der Aufbereitung der Informationen auf eine Weise, in der sie Hinweise auf Abhängigkeiten geben, wie in unserem Beispiel auf die Logistikprobleme, die sich durch die längere Nockenwelle ergeben. Eine Möglichkeit dieser Aufbereitung sind sogenannte Wissensgraphen. Mit ihrer Hilfe können Kontexte von beteiligten Systemen zusammengeführt und komplexe Fragestellungen beantwortet werden. Implizites Wissen, wie logistische, technische oder organisatorische und prozessuale Abhängigkeiten, können mit abgebildet und so explizit formalisiert werden. Wissensgraphen bieten damit eine strukturierte und vernetzte Sicht auf das vorhandene Wissen und ermöglichen es, Informationen kontextsensitiv bereitzustellen. Sie unterstützen Produktentwicklungsteams, indem sie eine effiziente und flexible Integration von Daten aus verschiedenen Quellen erlauben und diese für Abfragen interpretierbar machen.

Von Daten zu Wissen

Um spezifische Kontexte in Wissensgraphen zu modellieren, werden Informationsklassen (Knoten) angelegt und über Relationen (Kanten) miteinander verbunden. Knoten und Kanten können noch durch weitere Informationen angereichert werden. Somit entstehen formale Beschreibungen und Verknüpfungen von Informationen, die maschinenlesbar interpretiert werden können. In unserem Beispiel könnte ein Knoten für die Nockenwelle mit entsprechenden Informationen, wie etwa ihrer Gesamtlänge, angelegt und erweitert werden. An diesen werden dann wichtige Relationen zu anderen Knoten und deren sie näher beschreibende Informationen modelliert, beispielsweise die Werkstückträger der Logistik mit ihrer maximalen Transportbreite oder die Produktionsmaschine der Fertigung mit ihrem Arbeitsraum. Welche Knoten, Relationen und Informationen dabei ausschlaggebend sind, wird durch die jeweiligen Expertinnen und Experten abgestimmt und formalisiert, sodass die Informationen und Verknüpfungen im Wissensgraphen dann in entsprechenden Assistenzfunktionalitäten umgesetzt werden. Dies könnten Hinweise bei Veränderungen im Design sein oder auch das Aufzeigen eines Lösungsraums. 

Wie bereits im Beispiel erkennbar wird, können die einzelnen Informationen dabei aus unterschiedlichen Quellen stammen. Ein Graph kann zunächst »leer« als Referenzmodell erstellt und die eigentlichen Informationen durch die in den Graphen integrierten Systeme bereitgestellt werden; er bildet so eine gemeinsame Sprache für die Informationen aller Systeme. Für die Integration von Informationen gibt es dabei je nach Anforderung und Strategie unterschiedliche Ansätze. Integrierte Informationen können je nach Kontext durch weitere Informationen und Relationen angereichert werden. In Wissensgraphen kann demnach nicht nur ein systemübergreifender Kontext entstehen; dieser Kontext kann über die Systeminformationen hinaus individuell erweitert werden. 

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

Ran an die Umsetzung

Die Modellierung von Wissensgraphen ist sehr anwendungsspezifisch und erfordert deshalb viel Kontextwissen. Zunächst müssen relevante Informationen der Einzelsysteme identifiziert und modelliert werden. Anschließend müssen diese sinnhaft verknüpft werden. Zusätzlich wird eine individuelle Kontexterweiterung basierend auf den Fragestellungen und Anforderungen an die Assistenz vorgenommen. 

Das klingt aufwendig, bietet aber verschiedene Vorteile: Informationen können trotz des Einsatzes von Wissensgraphen in ihren Quellsystemen bestehen bleiben und bestehende Infrastrukturen und Systeme weiter produktiv genutzt werden. Zudem ermöglicht die individuelle Erweiterung von Informationen und der damit verbundene Erkenntnisgewinn für konkrete Fragestellungen eine gezielte Nutzung der vorhandenen Daten. Wissensgraphen können wachsen und zunehmend weitere Quellen für neue Fragestellungen integrieren. Wissensgraphen sind maschinenlesbar, was bedeutet, dass sie auch für die automatisierte Integration von Systemen untereinander dienen können.

Wissensgraphen unterstützen also den Informationsaustausch und die Kommunikation von Mitarbeitenden und Systemen unseres Unternehmens – sodass bei der nächsten Produktentwicklung gut informierte, vorausschauende Entscheidungen getroffen werden können. Und der Schmetterling flattert weiter.