Daten müssen auf der Agenda nach oben

Alexander Schirp und Sven Weickert vertreten im Projekt »ReTraNetz-BB« als Geschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB) die Perspektive der lokalen Industrie. Im FUTUR-Interview erklären sie unter anderem, wie die Digitalisierung die Automobilbranche verändern wird.

FUTUR: Was sind aus unternehmerischer Sicht die drängendsten Anliegen für die Neuausrichtung der Automobilindustrie, und auf welcher Ebene sollten diese adressiert werden?

Schirp:

Die Automobilindustrie steht vor der Herausforderung, nachhaltiger zu werden, ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren und in die Kreislaufwirtschaft einzutreten. Dies betrifft sowohl die Produktion als auch den Betrieb der Fahrzeuge. Hinzu kommen Digitalisierungsthemen wie autonomes Fahren und Konnektivität. Autos, die selbst fahren und mit anderen Autos und der Umwelt vernetzt sind, benötigen innovative und sichere Technologien. Zusätzlich verändert sich die Art und Weise, wie produziert wird. Die Prozesse und die Lieferketten werden digitalisiert, damit die Effizienz steigt und die Kosten sinken. Angesichts dieses intensiven Wandels müssen die Automotive-Unternehmen zuallererst die veränderten Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kundinnen und Kunden verstehen. Jedes Unternehmen braucht für diese umfassende Transformation eine klare Strategie für die Investitionen in Forschung und Entwicklung, Produktion, Marketing und Vertrieb.

Weickert:

Die Politik muss erkennen, dass gemeinsame Standards bei der Regulierung sowie Entwicklungsziele entscheidend sind für die Zukunftsfähigkeit dieser Branche. Zugleich ist es wichtig, dass sich die Politik auch beim Thema Nachhaltigkeit für ein Level Playing Field, also für weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen, einsetzt. Die klimaneutrale Produktion erfordert gewaltige Investitionen. Das darf sich nicht negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auswirken.

FUTUR: Wenn ein so wichtiger Wirtschaftssektor wie die Fahrzeug- und Zulieferindustrie digitalisiert wird, bringt das gigantische Datenströme mit sich, die gemanagt werden müssen. Welchen strategischen Stellenwert haben Konzepte wie Datenstandardisierung, Datensouveränität oder Datensicherheit für die Industriepolitik in Berlin?

Weickert:

Daten spielen die entscheidende Rolle für die Zukunft der Automobilindustrie, in der Hauptstadtregion wie weltweit. Sie bergen große wirtschaftliche Chancen. Damit Hersteller, Zulieferer und Infrastrukturbetreiber länderübergreifend miteinander kommunizieren können, braucht es – neben einheitlichen Datenstandards und Rechtssicherheit – entsprechend leistungsfähige digitale Infrastrukturen und eine robuste IT-Sicherheitsarchitektur. Diese Aufgaben müssen ganz oben auf der Agenda der Berlin-Brandenburger Digitalpolitik stehen. Beim Thema Fahrzeugdaten spielen aber auch Vertrauen und Privatsphäre eine große Rolle. Hier sind die Verbraucherinnen und Verbraucher sehr sensibel. Daher haben die Mitgliedsunternehmen des Branchenverbands VDA – ergänzend zu den bestehenden gesetzlichen Regelungen – gemeinsame Datenschutzprinzipien für vernetzte Fahrzeuge erarbeitet. Sie umfassen die drei Kernpunkte Transparenz, Selbstbestimmung und Datensicherheit.

FUTUR: Daten fallen nicht nur bei der Digitalisierung an, sondern auch in der Forschung. Wie tragen die Forschungspartner des Projekts »ReTraNetz-BB«, darunter das Fraunhofer IPK, aus Ihrer Sicht zur Transformation der Automobilbranche am Standort Berlin-Brandenburg bei?

Schirp:

Ganz grundsätzlich muss bei der Nutzung von Forschungsdaten die Balance zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gewahrt sein. Open Access, also der freie Zugang zu Forschungsdaten, ermöglicht die Nachvollziehbarkeit und Replikation von Wissenschaftsergebnissen. Veröffentlichungen tragen ganz wesentlich zur wissenschaftlichen Reputation bei. Dem stehen die Anforderungen der Wirtschaft entgegen, etwa zur Geheimhaltung von Ergebnissen, die im Rahmen von Industriekooperationen erarbeitet werden.

Weickert:

ReTraNetz-BB als gefördertes Projekt stellt Forschungs- und Entwicklungsergebnisse öffentlich zur Verfügung. Neben diversen Analysen zum industriellen Ökosystem im Bereich Automotive unterstützen die Forschungspartner die teilnehmenden Unternehmen bei der Ausgestaltung ihrer strategischen und technologischen Perspektive: Neben der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle geht es dabei auch um Produktionsprozesse, Technologien und Materialien, die für mehr Ressourceneffizienz sorgen und die Kosten senken. Die Forschungspartner bearbeiten auch das Top-Thema Fachkräfteentwicklung, indem sie perspektivisch Bildungsund Schulungsprogramme entwickeln und anbieten.

FUTUR: Herr Schirp, als examinierter Jurist und Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbands in der Hauptstadtregion sind Sie prädestiniert, dem Gesetzgeber als Ansprechpartner zu dienen. Wie beurteilen Sie den derzeitigen gesetzlichen Rahmen für die digitale Transformation – welche legislativen Lücken müssen geschlossen werden?

Schirp:

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den digitalen Transformationsprozess gehen über die bekannte Datenschutz- Grundverordnung (DSGVO) hinaus. Daneben berühren digital relevante Richtlinien und Verordnungen der EU die Bereiche IT-Sicherheit, Urheberrecht, Haftungsrecht und Beihilfe. Der gesetzliche Rahmen muss den Verbraucherschutz im Blick haben, darf aber die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie nicht beschneiden. Staatliche Regulierung – gerade in neuen Technologiefeldern – muss Flexibilität ermöglichen und Innovationspotenziale berücksichtigen.

FUTUR: Herr Weickert, wo steht die regionale Industrie in Sachen digitale Transformation heute und wo voraussichtlich 2030?

Weickert:

Der digitale Wandel ist, gepaart mit der Notwendigkeit der ökologischen Transformation, eine große Herausforderung für die Industrie. Und er wird – als Twin Transition – auch immer mehr zur Daueraufgabe. Vor allem, da die technologische Entwicklung so rasend voranschreitet. Selbst wenn man aus heutiger Sicht gut aufgestellt ist – schon morgen können neue Technologien und Wettbewerber die Branche grundlegend verändern. Eine Voraussetzung für die permanente Anpassungsfähigkeit der Industrie ist ein funktionierendes industrielles Ökosystem. Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Deep-Tech-Startups und Industrieunternehmen – ihr perfektes Zusammenspiel ist die Basis für erfolgreiche Innovation. Und hier ist die Hauptstadtregion gut aufgestellt: In wichtigen industrierelevanten digitalen Technologien spielt die Wissenschaft in Berlin und Brandenburg vorn mit, die Berliner Zukunftsorte und Unternehmensnetzwerke adressieren die richtigen Themen und in Brandenburg schließt sich die Wertschöpfungskette für Elektromobilität. Für Berlin bietet auch das Thema »Urban Production« erhebliche Chancen. Vor diesem Hintergrund trauen wir uns zu, bis zum Ende des Jahrzehnts einen neuen Höchststand von 250 000 Industriearbeitsplätzen in Berlin und Brandenburg zu prognostizieren.

Alexander Schirp

Jahrgang 1966, studierte Jura in Passau und Rostock. Seit 1995 arbeitet er für die Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB). Seit Oktober 2023 führt er den Spitzenverband sowie den Verband der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg (VME) als Hauptgeschäftsführer.

Sven Weickert

Jahrgang 1969, studierte Betriebswirtschaft in Berlin. Nach beruflichen Stationen in Wirtschaft und Wissenschaft wechselte er zu den Unternehmensverbänden Berlin- Brandenburg (UVB). Heute verantwortet er dort als Geschäftsführer die Bereiche Wirtschaft, Bildung und Digitalisierung.

RETRANETZ-BB

Das Ziel des Projekts »ReTraNetz-BB« ist es, die in der Region Berlin-Brandenburg ansässigen KMU aus der Fahrzeug- und Zulieferindustrie sowie deren Beschäftigte bei notwendigen Transformationsprozessen hin zu klimaneutraler Produktion und nachhaltiger Mobilität zu unterstützen. Im Fokus stehen die Förderung von vorhandenen Stärken, die Definition von neuen Themen, die modellhafte Entwicklung von Maßnahmen und die Begleitung von Tests sowie Anwendungen. Des Weiteren sollen Standortvorteile entwickelt und aufgezeigt sowie externe Einflüsse beachtet werden. Ein länderübergreifendes Konsortium aus Wirtschaftsförderern, Sozial- und Tarifpartnern, Bildungsträgern und wissenschaftlichen Einrichtungen, darunter Fraunhofer IPK und IWF der TU Berlin, treibt diese Vorhaben voran.