Systeme integrieren

Systemintegration ist für produzierende Unternehmen der Schlüssel, um in Hochlohnländern wettbewerbsfähig zu bleiben oder ihre Marktführerschaft zu verteidigen – doch wie kann sie gelingen?

Wo die klassische Systemintegration nicht mehr ausreicht, gilt es diese zur »evolutionären Systemintegration« weiterzuentwickeln. So kommen Industrieunternehmen aufgrund der komplexen Produktionszusammenhänge von heute nicht daran vorbei, alle entlang der Prozesskette beteiligten Systeme integrativ zu vernetzen. Es genügt bei Weitem nicht, dass die Akteure Mensch, Maschine und Informationstechnik miteinander kommunizieren. Denn es werden längst nicht mehr nur zentral geplante Abläufe in der Wertschöpfungskette ausgeführt, sondern auch situationsbedingt dezentrale Entscheidungen getroffen – und zwar zwischen rein technischen Systemen aber auch zwischen Menschen und Maschinen. Dazu müssen Produktionstechniken und -technologien mit Informationstechnik und -infrastruktur auf ganz neue Arten miteinander verbunden werden.

Vom Fließband zum IIoT

Die Entwicklung der Systemintegration in der Industrie ist eng mit technologischen Fortschritten und sich wandelnden Produktionsparadigmen verknüpft. Die Systemintegration ging dabei von einer mechanischen, starr verketteten Organisation der Produktionsprozesse zu einer zunehmend vernetzten und automatisierten Struktur über.

In der zweiten industriellen Revolution, geprägt durch Taylor und Ford, wurde die Arbeitsteilung systematisch in Produktionslinien umgesetzt. Diese Phase der System­integration war primär mechanischer Natur: Maschinen und Arbeitsstationen wurden starr miteinander verknüpft, um eine hohe Effizienz in standardisierten Produktionsprozessen zu erreichen. Mit der dritten industriellen Revolution, als Informationstechnologie und Automatisierung in den 1970er Jahren weiter Einzug hielten, veränderte sich das Bild der Systemintegration. Die damalige Vision der Computer Integrated Manufacturing (CIM) bedeutete einen großen Fortschritt: Erstmals sollten verschiedene Systeme innerhalb eines Unternehmens miteinander kommunizieren, wodurch die Planung, Steuerung und Durchführung von Produktionsprozessen erheblich verbessert werden sollten. Dennoch blieb auch hier die Flexibilität begrenzt, da die Systemintegration auf festgelegten, oft starren Strukturen basierte.

In der heutigen Ära der Industrie 4.0 treiben Cyber-Physische Systeme (CPS), das Industrial Internet of Things (IIoT) und Künstliche Intelligenz (KI) die Integration voran, indem sie tiefgreifende Verbindungen von physischen und digitalen Systemen ermöglichen. Diese Technologien streben nach einer völlig flexiblen, selbstorganisierenden Produktion, bei der Maschinen, Produkte und IT-Systeme in Echtzeit miteinander kommunizieren und sich dynamisch an wechselnde Bedingungen anpassen können.

Noch ist die mechanische und digitale Integration aber häufig in ihrer Flexibilität begrenzt und beschränkt sich, wenn überhaupt, auf einzelne Ökosysteme. Viele Produktionssysteme sind nach wie vor starr strukturiert, was es erschwert, mit agilen Produktionsprozessen auf Veränderungen im Markt oder in der Nachfrage zu reagieren. Nur durch eine wirklich flexible, vernetzte und adaptive Systemintegration können Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Das erfordert nicht nur technologische Innovationen, sondern auch ein Umdenken in der Gestaltung von Produktionssystemen. 

Konsequente Evolution statt visionärer Revolution

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

Die Zukunft der Produktionstechnik wird durch ein neues Verständnis von Systemintegration geprägt sein. Diese Form der Systemintegration wird sämtliche Aspekte der Produktion, von der Planung über die Ausführung bis hin zur Logistik, integrativ und intelligent miteinander verknüpfen. Die Vision basiert auf der vollständigen Verschmelzung von physischen und digitalen Systemen. So entstehen nahtlose, effiziente und anpassungsfähige Wertschöpfungsketten über Unternehmensgrenzen hinaus.

Die ganzheitliche Systemintegration in der Produktionstechnik wird die Art und Weise, wie produziert wird, evolutionär auf eine neue Stufe heben, vergleichbar mit dem Übergang zu Industrie 4.0. Im Kontext der Systemintegration bedeutet »evolutionär«, dass sich die Integration von Systemen schrittweise und kontinuierlich weiterentwickelt, anstelle von abruptem Wandel oder vollständigem Austausch von Technologien und Prozessen. Evolutionäre Systemintegration zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, bestehende Systeme flexibel zu erweitern und zu verbessern, um auf neue Anforderungen oder technologische Fortschritte zu reagieren, ohne die gesamte Infrastruktur zu destabilisieren. Die sich so verändernden Systeme sind nachhaltig anpassungsfähiger und langfristig innovativer. Durch die nahtlose Integration von physischen und digitalen Systemen, den Einsatz von KI und maschinellem Lernen sowie die Fokussierung auf Nachhaltigkeit und effiziente Mensch-Maschine-Interaktionen wird eine Produktionsumgebung geschaffen, die hochgradig flexibel, effizient und ressourcenschonend ist. 

Die Rolle des Menschen

Der Mensch wird weiterhin eine zentrale Rolle bei der Systemintegration spielen, insbesondere in Zeiten des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels. Während Maschinen und computerunterstützte Systeme zunehmend autonom agieren, ist der Mensch nach wie vor unerlässlich für die Gestaltung, Überwachung und kontinuierliche Anpassung dieser Systeme. Menschen sind in der Lage, komplexe Produktionsprozesse zu durchdringen und Systeme so zu integrieren, dass sie flexibel und anpassungsfähig bleiben. Diese menschliche Intelligenz ist entscheidend, um Daten sinnvoll zu interpretieren, strategische Entscheidungen zu treffen und unvorhergesehene Probleme zu lösen. Gerade in einer Zeit, in der Maschinen immer mehr Aufgaben übernehmen, ist es entscheidend, dass Menschen die Integration dieser Systeme verantwortungsvoll steuern, sodass technologische Fortschritte auch im Einklang mit sozialen Werten stehen. 

Unter diesem Gesichtspunkt stellt der demo-grafische Wandel eine wachsende Herausforderung dar: Mit einer alternden Belegschaft und einem Rückgang der verfügbaren Fachkräfte wird es schwieriger, qualifizierte Mitarbeitende zu finden, die in der Lage sind, hochkomplexe Prozesse zu verwalten und zu steuern. Diese Entwicklung verstärkt den Druck, Systeme so zu gestalten, dass sie auch mit geringer qualifiziertem Personal effizient betrieben werden können, unterstützt durch digitale Assistenzsysteme und Künstliche Intelligenz.

Schlüsseltechnologien und -konzepte

Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen werden eine Schlüsselrolle in der evolutionären Systemintegration spielen. Diese Technologien ermöglichen es, aus den entlang der Wertschöpfungskette erfassten Datenmengen wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen, die zu einer kontinuierlichen Optimierung beitragen können. KI-gesteuerte Algorithmen werden in der Lage sein, die laufende Produktion nicht nur zu überwachen, sondern auch proaktiv Anpassungen vorzuschlagen, die zu effizienteren Abläufen bei gleichzeitig besserer Qualität führen. So entsteht eine adaptive Produktion, die dynamisch auf Veränderungen in der Nachfrage oder unerwartete Störungen reagiert.

Die evolutionäre Systemintegration wird von den Prinzipien der Nachhaltigkeit geprägt sein. Die digitale und mechanische Integration entlang der Wertschöpfungskette muss so gestaltet sein, dass eine ressourcenschonende, abfallminimierende Produktion möglich wird. Dabei werden Kreislaufwirtschaftskonzepte sicherstellen, dass Materialien und Energie in geschlossenen Kreisläufen geführt werden, wodurch Rohmaterialien effizienter einsetzbar sind. Die Umwelt wird weniger belastet, einerseits durch die sparsamere Nutzung von Ressourcen, andererseits durch die Vermeidung von Abfällen. 

Digitale Zwillinge, virtuelle Abbilder physischer Objekte und Prozesse, stellen die Basis dar, um den gesamten Lebenszyklus von Produkten anhand von realen Daten zu überwachen und zu optimieren. Für eine nahtlose Integration aller an der Wertschöpfung beteiligter Ökosysteme müssen Standards geschaffen werden, die von allen Stakeholdern verbindlich eingesetzt werden. Konkurrenzdenken und das bewusste Abstecken von Systemgrenzen müssen vom Streben nach dem gemeinsamen Erreichen höherer, nicht mehr rein ökonomischer Ziele abgelöst werden. Aktuelle Ansätze wie die Bemühungen eines internationalen Standards für Digitale Zwillinge durch die International Digital Twin Foundation (IDTA), die Verwaltungsschale sowie Gaia-X sind begrüßenswert, können aber nur erfolgreich sein, wenn sie durchgängig und allumfassend von der Produktionsindustrie unterstützt werden. 

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

Empathische technische Systeme

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

Im Fraunhofer Leitprojekt EMOTION entwickeln sieben Fraunhofer-Institute unter der Leitung des Fraunhofer IPK innovative Ansätze für empathische technische Systeme – eine neue Stufe der Kognition technischer Systeme. Diese Systeme sind darauf ausgelegt, miteinander zu kommunizieren, voneinander zu lernen und sich flexibel an neue Herausforderungen anzupassen. Das Besondere daran ist die Übertragung des Begriffs der Empathie auf technische Zusammenhänge. Dabei geht es nicht um »echte Gefühle«, sondern vielmehr um Systeme, die den Zustand ihrer Umgebung und anderer Maschinen erfassen und darauf reagieren können, als hätten sie ein feines Gespür für die optimale Zusammenarbeit. Voraussetzung für eine effiziente Zusammenarbeit ist, dass die Systeme ein »wechselseitiges Verständnis« füreinander besitzen. Das bedeutet, dass sie nicht nur ihren eigenen Zustand erfassen können, sondern darüber hinaus auch den Zustand und die Intention der anderen Systeme. Für diese Fähigkeit, ein solch wechselseitiges Verständnis aufzubauen, steht repräsentativ der Begriff »Empathie«. 

Die Zusammenarbeit zwischen heterogenen Systemen erfordert aus technologischer Sicht ein hohes Maß an digitaler Vernetzung und eine neue Qualität der Intelligenz technischer Systeme. Ein besonders herausragender Aspekt von EMOTION ist deshalb die kommunikationstechnische Überwindung von Systemgrenzen. In modernen Produktionsumgebungen agieren verschiedene Systeme oft isoliert voneinander, um ihre jeweils vorgegebenen eigenen Ziele zu erreichen. Dieses »Nebeneinanderher« führt zu Ineffizienz und Informationsverlust. Die Forschenden im Projekt EMOTION überwinden die bisherigen Systemgrenzen, indem sie eine übergreifende Kommunikationsinfrastruktur entwickeln und implementieren, und das unter Beachtung von Datenschutz und -sicherheit. So ermöglichen sie eine nahtlose Interaktion zwischen unterschiedlichen Systemen und schaffen die Basis für eine wirklich integrative, empathische Produktion.

EMOTION ist weit mehr als nur ein theoretisches Konzept – es wird schon jetzt in der Praxis erprobt, und zwar in so verschiedenen Anwendungsbereichen wie Assistenzsystemen, Instandhaltung oder Produktionsplanung und -steuerung. Dabei geht es nicht nur um die technische Machbarkeit, sondern auch darum, den tatsächlichen Mehrwert dieser empathischen Systeme für die Industrie greifbar zu machen. EMOTION zeigt auf, wie die Produktion der Zukunft aussehen könnte: Maschinen, die nicht nur funktionieren, sondern aktiv zur Optimierung der gesamten Produktionskette beitragen. Durch die intelligente Integration von empathischen Systemen und die Überwindung von Systemgrenzen entsteht eine Produktionsumgebung, die sich kontinuierlich weiterentwickelt – ganz im Sinne einer evolutionären Systemintegration.