Gemeinsam mehr erreichen

Wer heute komplexe Produkte entwickelt, tut das datenbasiert und kollaborativ. Gaia-X soll dafür den Rahmen schaffen.

© iStock

Komplexe Produkte wie zum Beispiel Autos haben heute in der Regel einen nicht unerheblichen »digitalen Anteil«. Wichtige Funktionen entlang ihres gesamten Lebenszyklus haben sich daher von der physischen Welt in virtuelle Datenräume verlagert. In der Automobilbranche werden Produkte fast vollständig virtuell entwickelt, ganze Produktionsstätten werden mittels Digitaler Zwillinge gesteuert, und smarte Produkte zeichnen immer mehr Daten auf. Neue Anforderungen an Nachhaltigkeit und Recycling machen die Nutzung von Daten selbst nach Ablauf der Lebensdauer eines Produkts unumgänglich. Bei einem hohen Grad an organisationsübergreifenden Prozessen müssen diese Daten zunehmend auch gemeinschaftlich genutzt werden. Auch der dezentralisierte Austausch von Daten nimmt dabei durch die Fortschritte beim autonomen Fahren und die damit zunehmende Vernetzung von Fahrzeugen zu. Schließlich spielt die Nutzung von Software unterschiedlicher Hersteller ebenfalls eine bedeutende Rolle, wobei immer komplexere Service- und Funktionsketten abgebildet werden müssen, um Daten effizient verarbeiten und nutzen zu können.

All diese komplexen Zusammenhänge sind mit entsprechend großen Herausforderungen verbunden, die sich anhand einer zukunftsweisenden Technologie illustrieren lassen, die das Mobilitätsfeld nachhaltig beeinflussen könnten: kollaborative Digitale Zwillinge.

Master, Schatten, Zwilling

Digitale Zwillinge stellen eine Strategie dar, um Daten effektiv nutzen zu können. Als solche sind sie häufig essentieller Bestandteil der Digitalisierungsstrategie deutscher und europäischer Unternehmen. Digitale Zwillinge sind virtuelle Darstellungen eines realen Objekts, die virtuelle (Master-) und reale (Schatten-)Daten kombinieren, um eine gegebene Funktion zu erfüllen. Nehmen wir Ihr Auto als Beispiel. Es gibt wahrscheinlich tausende Autos wie Ihres. Sie alle wurden basierend auf denselben Zeichnungen und Produktionsanweisungen produziert, und sie haben Wartungszyklen, die auf einem durchschnittlichen Nutzungsverhalten beruhen. Die Modelle, Simulationen und Daten, aufgrund derer all diese Autos hergestellt werden, nennen wir »Master«. Ihr Auto ist jedoch einzigartig. Vom Moment des Produktionsbeginns an gab es Besonderheiten, denen nur Ihr Auto unterworfen war. Vielleicht gab es Montageabweichungen, oder es wird auf besonders schlechten Straßen oder in sehr heißen, kalten oder nassen Regionen gefahren und benötigt möglicherweise eine frühzeitige Wartung. Diese Daten, die die Realität Ihres einzigartigen Autos darstellen, nennen wir »Schatten«. Durch den Vergleich von Master- und Schattendaten des Autos können Funktionalitäten im Digitalen Zwilling umgesetzt werden und zum Beispiel Vorhersagen zum optimalen Wartungszeitpunkt getroffen werden.

Im gesamten Mobilitätsbereich sind Digitale Zwillinge essenziell. Sie unterstützen Fachkräfte dabei, Anomalien zu erkennen, Qualität zu bewerten, Wartungsbedarf zu prognostizieren, autonomes Fahren zu trainieren und verschiedene Mobilitätssysteme zu überwachen. Zu diesem Zweck müssen die Daten verschiedener Akteure und Quellen kombiniert werden, wie zum Beispiel Sensoren am Fahrzeug selbst, Entwicklungsmodelle des Herstellers, Klima- oder Verkehrsinfos. So entstehen sogenannte kollaborative Digitale Zwillinge, die es firmenund organisationsübergreifenden Produktentwicklungsteams ermöglichen, innovative, effiziente und ganzheitlich durchdachte Produkte zu gestalten. Um dabei Datensouveränität und -schutz und letztendlich das Vertrauen aller Beteiligter zu gewährleisten, muss dies alles in einer gut regulierten Umgebung geschehen.

Gemeinsam Daten nutzen dank Gaia-X

Hier setzt die Initiative »Gaia-X« an. Sie entwickelt ein Open-Source-Framework, das eine föderierte und sichere Dateninfrastruktur ermöglicht. Diese ermöglicht den Austausch von Daten in einer vertrauenswürdigen Umgebung, während die digitale Souveränität der Datenbesitzer und die Interoperabilität verschiedener Plattformen gewährleistet werden.

Dazu wird eine Open-Source-Toolbox mit sogenannten »Gaia-X Federation Services« (Gaia-X-Föderationsdiensten, GXFS) entwickelt. Diese stellen die technischen Mindestanforderungen dar, die für den Aufbau und den Betrieb eines cloudbasierten, selbstverwalteten Dateninfrastruktur-Ökosystems erforderlich sind. Sie umfassen eine Katalogkomponente, mit der die Datenraumteilnehmer gemeinsame Datenbeschreibungsstandards festlegen und Daten und Services intelligent zu kollaborativen digitalen Zwillingen verknüpfen können. Weitere Regeln und Komponenten für »Compliance«, »Sovereign Data Exchange« und »Identity & Trust« ermöglichen die Definition und Einhaltung von Regeln für kollaborative Datennutzung, zum Beispiel beim Abschließen von Verträgen oder der Verwaltung von Zugriffsrechten im gemeinsamen Datenraum.

Durch das Gaia-X-Ökosystem bricht für die Industrie eine neue Ära der branchenübergreifenden Zusammenarbeit an. Es erleichtert die Entwicklung und Umsetzung fairer und transparenter, datenbasierter Geschäftsmodelle und verringert deren Komplexität und Kosten. Die Vision von Gaia-X ist eine blühende digitale Industrielandschaft, in der die Werte der Datensouveränität, Zusammenarbeit und Innovation harmonisch verschmelzen. Am Fraunhofer IPK forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen von Gaia-X gemeinsam mit Unternehmen aus dem Digitalisierungs- und Mobilitätsbereich an Methoden und Technologien, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei untersuchen sie so tiefgreifende Fragestellungen wie die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle, die Strukturierung des Datenflusses, die Entwicklung gemeinsamer Digitaler Zwillinge, den Aufbau geeigneter IT-Systeme oder auch die Erstellung von Ontologien und Informationsmodellen zur Gewährleistung der Datenkompatibilität.