Wie Maschinen lernen, Strom zu sparen

Unsere Gesprächspartner erforschen gemeinsam, wie produzierende Unternehmen mithilfe von Maschinellem Lernen ihren Energieverbrauch reduzieren können.

PROJEKTSTECKBRIEF

Ziel des Forschungsprojekts »Reinforcement Learning für komplexe automatisierungstechnische Anwendungen (ReLkat)« ist es, ein KI-Verfahren zu entwickeln, das Anwender in den Bereichen Energieversorgung, Gebäudetechnik und Industrie beim Energiesparen unterstützt. Um die Brücke von der Forschung in die Welt der industriellen Anlagen zu schlagen, arbeiten Berliner Expertinnen und Experten aus der Produktionswissen­schaft (Fraunhofer IPK), der Mathe­matik (Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik WIAS Berlin) und der Künstlichen Intelligenz (Signal Cruncher) gemeinsam daran, konventionelle Steuerungstechnik an Bestandsanlagen für die Ausführung von Künstlicher Intelligenz und insbesondere Reinforcement Learning (RL) fit zu machen. Als Anwendungspartner sind zwei Berliner Industriegrößen am Projekt beteiligt: das Mercedes-Benz Werk Berlin und PSI Software. ReLkat zeigt, wie ein interdisziplinäres Team aus der Metropolregion Berlin-Brandenburg branchen- und domänenspezifische Herausforderungen meistern kann – mithilfe von Künstlicher Intelligenz!

© Fraunhofer IPK/ Larissa Klassen

futur: Herr Thiele, warum ist Machine Learning der »Way to go«, um Produktionsanlagen energieeffizienter zu betreiben? Gibt es keine ähnlich wirksamen, traditionelleren Möglichkeiten des Energiesparens?

Thiele:

Das Thema Energieeffizienz ist heute viel wichtiger als noch vor einigen Jahren, auch aus ökonomischer Perspektive. Die Energieeffizienz in der Fertigung durch mitlaufende Anpassungen zu steigern, ist aber mit manuellem Aufwand verbunden und lässt sich im seltensten Fall wirtschaftlich umsetzen. Wir sind also auf Automatisierung angewiesen, haben aber mit der Datenverarbeitung der Echtzeitregelung eine so anspruchsvolle Aufgabe, dass wir mit konventionellen Automatisierungsmethoden limitiert sind. Deswegen greift hier Maschinelles Lernen, das komplexe Zusammenhänge abbilden und nutzbar machen kann.

futur: Herr Dr. Thess, während prominente Stimmen wie Stephen Hawking und Elon Musk vor den Tücken der Künstlichen Intelligenz warnten und warnen, verspricht Signal Cruncher »lokale und sichere KI« durch Embedded Machine Learning. Was unterscheidet Ihre Herangehensweise an KI von der anderer Unternehmen?

Dr. Thess:

Wir sind in der Lage, Daten lokal zu analysieren und auszuwerten. Statt die Daten auf den Server oder in die Cloud weiterzureichen und dort zentralisiert auszuwerten, geschieht bei uns die Auswertung lokal, beispielsweise im Gateway des Haushaltes oder der Maschine. Damit entfallen zum einen gewisse Probleme im Zusammenhang mit Datenschutz. Zugleich erhöht sich auch die Sicherheit, weil das System weiter funktioniert, wenn die Verbindung ausfällt. Es entspricht auch generell dem Trend, dass neue Technologien erst zentralisiert eingeführt werden und im Zuge ihrer Weiterentwicklung dann dezentralisiert werden, wie zum Beispiel bei den Verkehrsmitteln. Man hatte erst die Eisenbahn, dann kam das Auto. Oder bei Computern: Zuerst kamen die Großrechner und dann die Personal Computer.

© Fraunhofer IPK/ Larissa Klassen

futur: Können Sie also die Ängste von Unternehmen entkräften, die beim Einsatz von KI aus Sorge um den Schutz ihrer Daten und IP zögerlich sind? 

Dr. Thess:

Ja, denn die Daten wandern nicht mehr zu dem Programm, das sie auswertet, sondern das Programm wandert dorthin, wo die Daten anfallen. Damit verlassen die Daten nicht mehr ihr bisheriges Hoheitsgebiet, der Datenschutz bleibt definitiv gewährleistet.

Thiele:

Ein neues Diskussionsfeld zwischen Produktionswissenschaften und Rechtswissenschaft ist auch die Nutzung von Betriebsdaten. Man kann mit Maschinellem Lernen Wissen und Erfahrung aus dem beobachteten Anlagenbetrieb generieren und es für sich nutzbar machen. Wenn man diese Betriebsdaten nun von einem Betreiber verwendet, ein Verfahren anlernt und beim zweiten Betreiber anwendet, wären indirekt auch die Betriebsdaten gewandert. Wir trainieren unsere Steuerungsalgorithmen aber nur an dem System, für das sie vorgesehen sind und diskutieren mit den Anwendern die Übertragbarkeit zwischen ähnlichen Anlagen des gleichen Unternehmens. Gleichzeitig unterstreichen wir mit derartigen Projekten natürlich, dass die während des Betriebs anfallenden Daten von sich aus schon einen gewissen Wert haben. Indem wir sie nutzbar machen, sehen wir, dass Daten eine Ressource sind, die einen potenziellen Mehrwert mit sich bringen und daher selbst einen inhärenten Wert aufweisen.

futur: Herr Thiele, Sie haben mit Ihrem Team am Fraunhofer IPK bereits mehrfach nachgewiesen, dass Sie Unternehmen mithilfe von intelligenter Steuerungstechnik beim Energiesparen unterstützen können. Inwiefern geht ReLkat weiter als seine Vorgängerprojekte? 

Thiele: 

Die vorangegangenen Projekte arbeiteten noch mit konventioneller Regelungstechnik. Wir haben damals auch schon mit empirischen Daten statistische Modelle erzeugt, um das Verhalten der Anlage in statischen Arbeitspunkten abzubilden, jedoch noch nicht die Anlagendynamik selbst berücksichtigt. Wenn ich nun das Anlagenverhalten nicht nur an statischen Punkten abbilden möchte, sondern als zeitliche Abhängigkeit, dann zwingt mir diese neue Komplexität auf, dass ich Maschinelles Lernen verwende. Wir erschließen so einen neuartigen Lösungsraum und gehen eine Leistungsstufe weiter.

Dr. Thess: 

Wir beschäftigen uns seit vielen Jahren mit Reinforcement Learning und verfolgen dabei das Ziel, den Kern stabiler und schlanker zu gestalten. Dazu wird im Zuge von ReLkat ein spezielles Verfahren entwickelt, welches auf hierarchischen Tensornetzwerken beruht. Dieses Verfahren ermöglicht es, die Technologie sehr schlank zu halten, anders als beispielsweise bei rechenintensiven Neuronalen Netzen. Das betrifft den algorithmischen Part, der zweite Part ist das, was Herr Thiele bereits gesagt hat: Wir möchten Industrieprojekte angehen, die wir bisher nicht im Fokus hatten. Mit dem Energieverbrauch im industriellen Bereich hat das Fraunhofer IPK sehr viele Erfahrungen. Daraus erhoffen wir uns perspektivisch ein entsprechendes Potenzial für den Vertrieb und die Vermarktung.

Thiele:

Wir als Fraunhofer IPK fungieren als praktische Brücke zwischen den Fachexperten der herstellenden Betriebe und der Machine-Learning-Expertise von KI-Spezialisten wie Signal Cruncher. Wir bereiten Probleme der industriellen Fertigung so auf und erschließen uns Systemzusammenhänge und Daten derart, dass sie als mathematisches Problem erst formulierbar werden. Durch dieses interdisziplinäre Herangehen von Maschinenexperten vor Ort, Fraunhofer IPK-Wissenschaftlern als Bindeglied und KI-Experten aus einer dedizierten KI-Firma, hat so ein Projekt wie ReLkat überhaupt erst die Möglichkeit, innerhalb von wenigen Jahren praxistaugliche Lösungen zu entwickeln.

futur: Sie kooperieren auch mit dem Weierstraß-Institut für angewandte Analysis und Stochastik und mit PSI, einem börsennotierten Unternehmen, das Software für Versorger und Industrie anbietet. Wie und wozu haben Sie diese interdisziplinären Partner an Bord geholt?

Dr. Thess:

Die Verbindung zum WIAS kam über Prof. Reinhold Schneider von der TU Berlin zustande, ein auf dem Gebiet der Tensoren anerkannter Wissenschaftler. Er konnte uns den für die Umsetzung der Tensornetzwerke für Reinforcement Learning wichtigen Kontakt zum WIAS vermitteln.

Thiele: 

Auf der Suche nach geeigneten Anwendungspartnern haben wir uns dazu entschlossen, sowohl die diskrete Bauteilfertigung zu adressieren, als auch die kontinuierliche Prozesstechnik. Daher finden sich in unserem Konsortium als Anwendungspartner einerseits Mercedez-Benz mit ihrem Werk Berlin, die seit vielen Jahren bereits großes Engagement in Richtung Energieeffizienzoptimierung zeigen und auf der anderen Seite die PSI Software AG mit dem Bereich Pipelinebetrieb. Somit sammeln wir im Projekt Erfahrung im Bereich der kontinuierlichen Prozesstechnik wie auch der diskreten Komponentenfertigung.

© Fraunhofer IPK/ Larissa Klassen

futur: Eine Hürde für den Einsatz von Machine Learning in der Praxis ist, dass die meisten Lösungen sehr spezialisiert sind und zunächst manuell aufwendig »angefüttert« werden müssen. Sie verfolgen den Anspruch, eine generische und flexible Lösung zu entwickeln – wie soll das gehen?

Dr. Thess:

Die Generik steckt im Ansatz selbst: Durch den Einsatz von Maschinellem Lernen beobachten wir die physikalische Welt und bauen letztlich statistische Modelle. Das hat den Vorteil, dass wir dafür nicht so viel Domänenwissen brauchen. Der traditionelle Weg wäre über eine physikalische Modellierung durch Differentialgleichungen. Dieser Weg ist sehr aufwendig und hat auch gewisse Grenzen. Das Prinzip der KI ist es dagegen, einfach nur durch Beobachtung des Wechselspiels von Aktion und Analyse Zusammenhänge zu lernen. Durch diesen Black-Box-Charakter ist die Lösung von Natur aus sehr generisch, weil sie nicht wirklich versteht, was sie eigentlich macht, um es einmal in »menschlichen« Worten auszudrücken. Das heißt natürlich nicht, dass nicht trotzdem spezifische Anpassungen notwendig sind. Der Gedanke, das völlig generisch zu machen, erscheint mir illusorisch. Auch bei uns muss man natürlich eine gewisse Auswahl der Parameter treffen und Trajekto­rien vorgeben. Gleichwohl ist der Aufwand ungleich geringer als bei manuellen Verfahren oder mit einem klassischen physikalischen Ansatz. In dem Sinne ist es schon richtig: Es ist eine ziemlich generische Lösung für die Minimierung des Energiebedarfs.

Thiele: 

Daneben gibt es für die Industrie noch ein weiteres gutes Argument, das unsere Lösung attraktiv macht: Wir erschließen komplett neue Einsparpotenziale dadurch, dass wir Stellschrauben angehen, die vorher fixiert waren. Eine Vorlauftemperatur, die vorher seit Jahr und Tag bei zwölf Grad stand und nun von uns auf zehn oder vierzehn eingestellt werden kann, wurde nie als manuelle Aufgabe oder mit konventioneller Regelung nach den Energieeffizienzgesichtspunkten angepasst. Wir ersetzen also nicht eine Funktionalität mit KI, die vorher andersartig ausgeprägt war, sondern wir nutzen die Möglichkeiten von KI, um eine völlig neuartige Funktionalität – nämlich dieses Anpassen von Zielgrößen je nach Energieeffizienzgesichtspunkten – der bestehenden Automatisierung hinzuzufügen. Deswegen werden wir und unsere Arbeit als Hilfe und Assistenz der Betreiber wahrgenommen und nicht als Konkurrenz zur manuellen Arbeit.

Gregor Thiele

© Fraunhofer IPK/ Larissa Klassen

ist stellvertretender Leiter der Abteilung Prozessautomatisierung und Robotik am Fraunhofer IPK. In mehreren FuE-Projekten entwickelten er und sein Team ein intelligentes, universell einsetzbares Framework, das den Betrieb von Anlagen automatisch energieeffizienter macht.

Dr. Michael Thess

ist Gründer und Geschäftsführer des Berliner Startups Signal Cruncher. Das Team des Unternehmens, das Expertise im Bereich Embedded Machine Learning für IoT anbietet, hat »Smart Energy« zu einem seiner Kernthemen erklärt. Mit seiner XONBOT-Software unterstützt Signal Cruncher B2C- und B2B-Kunden auf diesem Gebiet.

 

© Fraunhofer IPK/ Larissa Klassen