Vom Alexanderplatz an den Amazonas

Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Brasilien im Bereich Industrie 4.0 nimmt Fahrt auf – mit dem Fraunhofer IPK als wichtigem Treiber.

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Multitool-Geländeroboter für den Baustelleneinsatz
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Der am CCM-ITA gebaute Flugsimulator basiert auf einem handelsüblichen Roboterarm
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Im Innenraum befindet sich ein Cockpit zur Pilotenausbildung

Selten war die Begeisterung für die deutschbrasilianische Partnerschaft so groß wie im Jahr 2023. Im Januar besuchten sowohl der deutsche Bundespräsident als auch der Bundeskanzler das südamerikanische Land. Nur wenige Wochen später, im März, betonten zwei weitere hochrangige Minister, Vizekanzler Robert Habeck und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, bei ihrem Besuch die gemeinsamen Interessen und Werte der beiden Länder. Sie bekräftigten ihre Absicht, nachhaltige politische und wirtschaftliche Beziehungen auf Augenhöhe mit dem südamerikanischen »Premiumpartner « aufzubauen. Eines der Hauptgesprächsthemen der deutschen Politiker war das Potenzial Brasiliens bei der Etablierung einer nachhaltigen, hoch digitalisierten Industrie.

Einen Schritt voraus

Glücklicherweise muss die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern nicht bei null anfangen. Es gibt Präzedenzfälle für erfolgreiche Kooperationen in Forschung und Entwicklung im Bereich Industrie 4.0. Forscher des Fraunhofer IPK arbeiten seit über einem Jahrzehnt mit wichtigen Akteuren der brasilianischen Industrieforschung zusammen, wie dem Competence Center in Manufacturing am renommierten Aeronautics Institute of Technology (CCM-ITA) und dem Nationalen Dienst für industrielle Ausbildung SENAI. Diese Partnerschaften haben sich als treibende Kräfte bei den Bemühungen um eine digital integrierte Produktion etabliert.

Die brasilianischen Partner profitieren von der internationalen Reputation des Fraunhofer IPK sowie von dessen langjähriger Expertise in der Fertigungsforschung und dem direkten Transfer der Ergebnisse in die Industrie. Diese Kompetenzen kommen im »Fraunhofer IPK Project Office for Advanced Manufacturing at ITA« zum Tragen. Darin entwickelt das Berliner Institut gemeinsam mit einer der führenden Ingenieursfakultäten Brasiliens vor Ort in São José dos Campos innovative produktionstechnische Lösungen. Prof. Dr. Ronnie Rego, Professor am ITA und einer der Leiter des »Fraunhofer IPK Project Office for Advanced Manufacturing at ITA«, erklärt, dass eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Industrie notwendig sei, um den Transfer von wissenschaftlichen Ergebnissen zu gewährleisten: »Trotz der jüngsten Fortschritte in dieser Richtung müssen wir noch große Anstrengungen unternehmen, um die Denkweise in Brasilien zu verankern. Wir wollen zeigen, dass sich akademische Exzellenz und industrielle Anwendung nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil, sie sind sehr eng miteinander verbunden.«

Fraunhofer IPK-Wissenschaftler Gustavo Reis de Ascenção bestätigt die Notwendigkeit einer Professionalisierung: »Als wir 2017 die Zusammenarbeit mit dem ITA begannen, war eines unserer ersten Projekte die Etablierung eines Verkaufstrichters. Sie hatten bereits Ideen, um Industrieprojekte zu akquirieren, und gemeinsam haben wir es geschafft, den Ansatz zu systematisieren.«

Einfach genial, genial einfach

Auf der anderen Seite schätzen die Forschenden des Fraunhofer IPK das Innovationspotenzial, das ihre brasilianischen Partner mitbringen, sehr. Eine der Stärken des CCM-ITA ist sein transdisziplinärer Ansatz. Neben hochmodernen Fertigungsforschungslabo-ren und experimentellen Geräten gibt es dort auch ein Human Factors Research Lab. Mithilfe von Instrumenten wie EEG-Headsets zur Messung von Gehirnströmen, Augenbewegungstrackern und anderen physiologischen Sensoren erforschen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie Menschen mit industriellen Arbeitsumgebungen interagieren.

Eine weitere Priorität des CCM-ITA – und damit auch ein Anliegen des »Fraunhofer IPK Project Office for Advanced Manufacturing at ITA« – ist es, wirtschaftliche und skalierbare Lösungen für die brasilianische Produktionsindustrie zu finden. »Eine Spezialität der brasilianischen Fertigungsforschungslandschaft liegt darin, Lösungen zu finden, die nicht nur innovativer, sondern auch billiger und einfacher zu bauen und damit leichter zugänglich sind«, sagt ITADoktorand Ivan de Souza Rehder. Ein sehr beeindruckendes Beispiel für diesen Ansatz ist ein Flugsimulator, der am CCM-ITA entstand. Seine Hardware basiert auf einer echten Pilotenkabine mit Steuerknüppeln und Bildschirmen, die auf einem Roboterarm montiert ist, der sich auf wenigen Metern Schiene bewegt. Die Forschenden haben das System so programmiert, dass es sich synchron mit der Steuerung bewegt und so aus leicht zugänglichen Industrieteilen eine kostengünstige Möglichkeit geschaffen, Pilotinnen und Piloten zu trainieren.

Die sich ergänzenden Kompetenzen des binationalen Forschungsteams sowie die gemeinsamen Anstrengungen und das Engagement für die Partnerschaft haben dazu geführt, dass das »Fraunhofer IPK Project Office for Advanced Manufacturing at ITA« außerordentliche Erfolge vorzuweisen hat. Sein Vorgänger, das FPC@ITA, übertraf sein ursprüngliches Projektvolumen um mehr als das Dreifache und erreichte statt der geplanten 2,6 Millionen Euro rund 11 Millionen Euro. Insgesamt wurden 51 FuE-Projekte durchgeführt, davon 31 Industrieprojekte und 20 öffentlich geförderte Projekte. Mit diesen Ergebnissen als Maßstab sieht die Zukunft der brasilianisch-deutschen FuEZusammenarbeit sehr rosig aus.

Erfolgsgeschichten

Im Laufe der Jahre hat die Zusammenarbeit zwischen dem Fraunhofer IPK und seinen Partnern in Brasilien zu mehreren erfolgreichen Forschungsprojekten geführt – drei davon möchten wir Ihnen hier vorstellen.

Das Konsortialprojekt FERA entwickelt additive Fertigungstechnologien, um die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Werkzeughersteller in diesem Sektor zu verbessern. Seine Schwerpunkte basieren auf den Bedürfnissen der lokalen Automobil- und Werkzeugindustrie: halbautomatische additive Reparatur von Tiefziehwerkzeugen und additive Fertigung von Werkzeugen mit komplexen Geometrien, von Vorrichtungen und Ersatzteilen. »Wir tragen Technologien wie das automatisierte Laserauftragschweißen zur Reparatur von Werkzeugen für Karosserien und Strukturbauteile bei. Außerdem führen wir eine Marktanalyse und Schulungen zu additiven Fertigungstechnologien durch«, berichtet Dr.-Ing. David Domingos, einer der Leiter des »Fraunhofer IPK Project Office for Advanced Manufacturing at ITA«.

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Gebäude des CCM-ITA auf dem Campus in São José dos Campos

Die bereits erwähnte Kooperation »ESCalate SENAI« läuft seit 2012 und nach aktuellem Planungsstand bis Oktober 2025. Ein Team des Fraunhofer IPK unterstützt den brasilianischen Industrieausbildungsdienst SENAI beim Aufbau von Innovationsinstituten nach dem Fraunhofer-Modell. Durch regelmäßige Audits fördern sie zudem die Entwicklung und Professionalisierung der Institute, sowohl in Management- als auch in Technologiefragen.

Die Partnerschaften mit SENAI und ITA haben auch neue gemeinsame Projekte hervorgebracht, wie zum Beispiel einen Spezialisierungskurs in Advanced Manufacturing. Der Kurs wurde in Zusammenarbeit zwischen SENAI Minas Gerais, ITA und Fraunhofer IPK organisiert, mit Vorträgen von Experten und Professorinnen aus jeder dieser Institutionen. Er stützte sich auf zwei Hauptpfeiler: Die Immersion in Innovationsinstitute (praxisorientierter Ansatz) und in die Technologie. Rund 40 Vertreterinnen und Vertreter brasilianischer Unternehmen nahmen an dieser Spezialisierung teil.