Vorbild Gehirn

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. med. Katrin Amunts, Direktorin des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich

Hirnforschung und Technologieentwicklung treiben sich gegenseitig voran. Mithilfe von neuroinspirierten Technologien, Supercomputern und Künstlicher Intelligenz können wir die Komplexität des menschlichen Gehirns immer besser verstehen.

Neuroinspirierte Technologien ahmen bestimmte Prinzipien der Struktur und Funktionsweise des menschlichen Gehirns nach und haben in den Bereichen des Supercomputings, der Datenwissenschaften und des maschinellen Lernens zu Durchbrüchen geführt. Umgekehrt können wir mithilfe neuroinspirierter Technologien auch viel darüber lernen, wie das Gehirn arbeitet. 

So etwa im Rahmen des europäischen Human Brain Project (HBP). In dem Projekt arbeiten mehr als 122 Forschungseinrichtungen aus 17 Ländern zusammen, um Hirnforschung und Informationstechnologien miteinander zu vernetzen und weiterzuentwickeln. Wir möchten das menschliche Gehirn in seiner vielschichtigen Komplexität in Raum und Zeit bis ins kleinste Detail verstehen und dieses Wissen in der Medizin, Informatik und Technik zum Einsatz bringen. Supercomputer und Künstliche Intelligenz helfen uns Neurowissenschaftlern im Projekt dabei, die dafür erforderlichen riesigen Datenmengen zu analysieren. So konnten wir aus Tausenden digitalisierten Hirnschnitten ein anatomisches Modell des menschlichen Gehirns mit einer Auflösung von 20 Mikrome­tern erstellen. Das Modell liefert wertvolle Einblicke in die Architektur des Gehirns und ermöglicht uns, Erkrankungen besser zu verstehen und gezielter zu behandeln. Doch neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung bringen nicht nur die Medizin voran, sondern tragen auch maßgeblich zur Entwicklung neuer leistungsstarker und energieeffizienter KI- und Computertechnologien bei.

Wenn es zum Beispiel darum geht, schnell etwas zu lernen (»single shot learning«) oder das Gelernte ständig weiterzuentwickeln (»life-long learning«), steht die Künstliche Intelligenz der menschlichen noch um einiges nach. Darüber hinaus ist das Gehirn im Vergleich zu leistungsstarken Computern extrem platz- und energiesparend – Eigenschaften, die vor allem für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in mobilen Anwendungen von großer Bedeutung sind. So benötigt unser Gehirn für hochkomplexe Informationsübertragungen und -verarbeitungen weniger Energie als eine 30-Watt-Glühbirne. Damit verbraucht es im Vergleich zu einem Supercomputer nur ein Millionstel an Energie. Das liegt daran, dass Nervenzellen mithilfe elektrischer Impulse besonders effizient miteinander kommunizieren. Denn sie setzen diese Impulse, sogenannte Spikes, nur sehr sparsam ein. Andererseits gibt es viele Berechnungen, wo Supercomputer um ein Viel­faches schneller sind. Diese Unterschiede in der Funktionsweise besser zu verstehen, ist sowohl für die Computerwissenschaft als auch für die Hirnforschung interessant.

Unser Gehirn benötigt für hochkomplexe Informationsübertragungen und -verarbeitungen weniger Energie als eine 30-Watt-Glühbirne.

Forscherinnen und Forscher des Human Brain Project an der Technischen Universität Graz haben sich von Erkenntnissen aus der Hirnforschung inspirieren lassen, um einen neuen Lernalgorithmus für Künstliche Intelligenz zu entwickeln. Ähnlich wie im Gehirn werden die einzelnen Zellen des künstlichen neuronalen Netzwerkes nur dann aktiviert, wenn ihre Impulse für die Verarbeitung von Informationen tatsächlich benötigt werden. Der Lernalgorithmus soll zukünftig in einen Chip des Herstellers Intel integriert werden sowie in das SpiNNaker-System, die weltweit größte neuromorphe Com­puterarchitektur. 

SpiNNaker wurde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Manchester entwickelt. Das System ist in seiner Struktur an die eines biologischen Nervensystems angelehnt und umfasst eine Million Prozessorkerne. Damit hat es die Kapazi­tät, die neuronalen Aktivitäten eines Mäusegehirns zu simulieren. Das System steht Forschenden weltweit über die ebenfalls im Human Brain Project entwickelte digitale Infrastruktur EBRAINS frei zur Verfügung und birgt ein enormes Potenzial sowohl für die Hirnforschung als auch für Computerwissenschaften und die Robotik.

Gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe der Technischen Universität Dresden hat das Team aus Manchester kürzlich im Rahmen des Human Brain Project einen KI-Chip namens SpiNNaker2 entwickelt. Der Chip verfügt über eine unvergleichbare Effizienz und eine Latenzzeit von unter einer Millisekunde für ereignisbasierte Systeme. Er soll in einem Computersystem mit 10 Millionen Prozessorker­nen an der TU Dresden verbaut werden. Dort wird er für Anwendungen im autonomen Fahren, für den Datenverkehr in intelligenten Städten, in taktilen Internetapplikationen und in der Biomedizin getestet. Über das Dresdner Startup SpiNNcloud Systems soll der Chip darüber hinaus bald kommerzialisiert werden.

Prof. Dr. med. Katrin Amunts

© Mareen Fischinger

übernahm 2016 als Forschungsdirektorin die wissenschaftliche Leitung des europäischen Flagships Human Brain Project (HBP). Sie ist Professorin für Hirnforschung, leitet das C. und O. Vogt-Instituts für Hirnforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und ist Direktorin des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich. Ihre Forschung konzentriert sich auf Organisationsprinzipien des menschlichen Gehirns und wie seine Struktur mit Funktion und Verhalten zusammenhängt. Zu Beginn ihrer Laufbahn war Katrin Amunts Anfang der 1990er-Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Maschinelles Sehen unter der damaligen Leitung von Dr. Bertram Nickolay am Fraunhofer IPK in Berlin tätig. »Aus den Methoden der Bildanalyse und den verschiedenen Ansätzen aus der Industrie, die ich am Fraunhofer IPK kennengelernt habe, konnte ich bereits viel Nutzen für Anwendungen in der Hirnforschung ziehen. Auch in meiner jüngsten Forschung greife ich auf ein Verfahren zurück, das ich während meiner Zeit in der Abteilung von Bertram Nickolay erlernt habe.«