Gut zu wissen

Das Know-how von Mitarbeitenden ist für Unternehmen eine wichtige Ressource. Wie es auch über global verteilte Standorte hinweg zur Verfügung gestellt werden kann, diskutieren Hans-Christian Kesper, Senior Expert Operational Excellence bei der Bayer AG und Dr. Ronald Orth, Abteilungsleiter Business Excellence Methoden am Fraunhofer IPK.

FUTUR: Herr Kesper, »Sharing is caring« ist das Motto der weltweiten Wissensstrategie von Bayer. Welche Rolle spielt Wissensmanagement in Ihrem Unternehmen?

Kesper:

In vielen Unternehmen wird dem Wissensmanagement nur eine untergeordnete Rolle beigemessen. Dabei ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass rund 18 Prozent der täglichen Arbeit durch ineffiziente Prozesse und circa 25 Prozent für Doppelarbeit verschwendet werden. Große Unternehmen wie Toyota, Apple, Google oder Amazon haben erkannt, dass Wissen, das geteilt wird, dem gesamten Unternehmen zugutekommt und nachweislich bis zu 25 Prozent mehr Effizienz und bis zu 50 Prozent mehr Innovationsleistungen führt. Für Umstrukturierungsmaßnahmen in Unternehmen sind Kommunikation und Verfügbarkeit von Wissen ungemeine Erfolgsfaktoren und führen auch zu mehr Mitarbeiterzufriedenheit sowie Unternehmensstolz. Im Rahmen flacher Hierarchien ist das somit eine Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Miteinander. Hinzu kommt: Absolventinnen und Absolventen beurteilen heutzutage Unternehmen nicht mehr nur nach monetären Faktoren, sondern vorrangig nach ihrer immateriellen Substanz, die zeigt, wie offen, innovativ und zukunftsfähig ein Unternehmen ist.

FUTUR: Welche Herausforderungen haben Sie bei Bayer im Bereich »CropScience«?

Kesper:

Bayer CropScience entwickelt Saatgut- und Pflanzenschutzlösungen, die global und regional eingesetzt werden. Die Sparte ist dadurch stark kundengebunden, mit dem Ziel, den bestmöglichen Anwenderprozess zu garantieren. Deshalb ist Schnelligkeit unser Geschäft. Dafür benötigen wir eine hohe Verfügbarkeit der dafür notwendigen Informationen in einem agilen Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen. Wie in jedem Unternehmen sichert das uns Kundenzufriedenheit und Folgeaufträge, was dann hoffentlich zu Unternehmenserfolg und -expansion führt und nicht zuletzt Arbeitsplätze sichert.

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

FUTUR: Herr Orth, welche Informationen, welches Wissen brauchen Unternehmen, um zu wissen was sie tun? 

Orth:

Wichtig ist erst einmal das Grundverständnis, die Einsicht darüber, dass Wissen ein relevanter Erfolgsfaktor ist. Das ist bei Unternehmen, die aus dem Technologiebereich kommen und sehr wissensintensiv und dynamisch sind, oft schon vorhanden. Aber was nach wie vor schwierig ist, ist die Bewertung von immateriellen Ressourcen. Wie kann ich als Unternehmen, wenn ich Maßnahmen starte und investiere, am Ende sagen, das hat mir wirklich was gebracht? Das ist hier, anders als in der Produktion, wo man harte Kennzahlen hat, schwierig. Wenn man entscheidet, Wissen ist relevant, obwohl wir es nur bedingt messen können – dieses Grundverständnis und eine Veränderungsbereitschaft sind ganz wichtige Grundvoraussetzungen für Unternehmen, um dieses Thema anzugehen und es vom Shopfloor auf eine Managementebene zu heben. So haben wir auch mit Bayer zusammengefunden: Die Bereitschaft, etwas zu ändern, konkrete Maßnahmen zum Wissensmanagement einzuführen, war da. Dann haben wir zusammen geschaut, wo steht das Unternehmen, wo will es hin. Diese Selbstreflektion ist ein wichtiger Punkt – erst wenn ich den Status quo und meine Ziele kenne, kann ich konkrete Maßnahmen ableiten und umsetzen.

Kesper:

Ich komme aus dem Bereich der Operational Excellence, das heißt also: Tue etwas beim ersten Mal richtig durch strukturiertes Vorgehen, also First Time Right! Der Ist-Zustand und der Soll-Zustand sind hier klar zu definieren. Für die Abweichung dazwischen muss ich Lösungen finden. Was ich aber viel wichtiger finde: Vor Ist- und Soll-Zustand ist immer die Problembeschreibung klar zu erkennen und zu definieren. Also, habe ich überhaupt ein Problem? Das ist ein Grundsatz, der oftmals vergessen wird. Die Problembeschreibung beim Thema »Wissensmanagement« war bei uns einfach: Mitarbeiterunzufriedenheit. 

FUTUR: Wie sind Sie dieses Problem angegangen?

Kesper:

Wir haben zunächst eine Statusabfrage unter den rund 350 Mitarbeitenden im Bereich »Ingenieurtechnik« bei CropScience gemacht: Wie ist die Zufriedenheit mit dem aktuellen Wissensmanagement und dem Auffinden von Informationen bei CropScience? Dazu haben wir gemeinsam mit dem Team von Ronald Orth einen Fragenkatalog generiert. Die Online-Befragung war gut, hat uns aber nicht ausgereicht. Wir haben daher deren Ergebnisse nochmals in 25 Einzelinterviews verifiziert. Insgesamt ergab sich daraus ein für uns schlüssiges und nachvollziehbares Ergebnis, welches wir als repräsentativ angenommen haben – auch über die Ingenieurtechnik hinaus.

Orth:

Die Gespräche waren wichtig, um den Leidensdruck genauer zu verstehen. Oft gibt es ja die Sorge, dass Wissensmanagement mit enormem Aufwand verbunden ist, mit noch mehr Dokumentation zum Beispiel. In der Befragung war das ein Punkt: Viele Mitarbeitende haben angegeben, dass sie eine hohe Aufgabenvielfalt, aber immer weniger Zeit haben. Da konnten wir ansetzen und klar machen, dass es uns darum geht, sie zu entlasten, zu unterstützen, indem sie bestimmte Informationen, die bereits im Unternehmen vorhanden sind, besser finden und nutzen können. Es hilft auch am Anfang, Veränderungen in kleinen Schritten zu planen – zu schauen, welche Lösungen sich an anderen Standorten bereits bewährt haben. Gibt es regelmäßige Project Reviews oder Checklisten, die auch in anderen Projekten genutzt werden können? 

FUTUR: Welche konkreten Lösungen aus dem gemeinsamen Projekt führen Sie jetzt bei Bayer ein? 

Kesper:

Aufgrund der Umfragen hatten wir festgestellt, dass die Mitarbeiter mit dem Auffinden von Informationen sehr unzufrieden sind. Deshalb haben wir unsere Intranet-Suche verbessert, die wir um ein generatives KI-Tool ergänzen werden. Sie soll den Mitarbeitern ermöglichen, auf konkrete Fragen fundierte Antworten oder auch empfohlene Handlungsanweisungen zu erhalten. Wir wollen keine Ergebnislisten aufgrund von Suchanfragen mehr generieren, durch die die Kollegen aufwendig durchscrollen müssen, sondern das System generiert ähnlich wie ChatGPT oder Google Gemini Antworten auf Fragen und liefert die Quellenangabe mit, sodass man selbst noch einmal verifizieren kann. Das hoffen wir bis Mitte des Jahres umzusetzen.

Zweitens ist bei uns eine multilinguale Q & A-Plattform mit automatischer Übersetzung aktiv, in der bereits ein GPT-Tool integriert ist, welches auf Fragen schnelle Antworten von Kollegen liefert und somit verschiedene Communities bei der Archivierung von Best Practices und Lessons Learned unterstützt. Außerdem ist die Verbindung von Expertinnen und Experten untereinander schnell ermöglicht. Das war uns wichtig, dass wir mit diesem Forum Kolleginnen und Kollegen zusammenbringen. Das dritte ist in Planung: kurze Videoformate ähnlich wie auf YouTube oder TikTok oder Podcasts, die wir anbieten, zum Beispiel zu Reparaturschwerpunkten. Wenn wir global mit Wissensmanagement funktionieren wollen, dann muss Multilingualität standardmäßig gewährleistet sein.

© Fraunhofer IPK/Larissa Klassen

FUTUR: Welche Herausforderungen sehen sie noch bei der Umsetzung ihrer Wissensmanagementlösungen? Spielen eventuell kulturelle Unterschiede in Ihrem globalen Unternehmen eine Rolle? 

Kesper:

Im technischen Bereich nicht. Eklatante kulturelle Unterschiede erleben wir in der Art untereinander zu kommunizieren. Da, glaube ich, haben wir erheblichen Nachholbedarf und sollten voneinander lernen. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Ich sende eine Einladung mit kurzer Inhaltsbeschreibung und die Kollegin oder der Kollege sagen ohne Kommentar ab. Welches Feedback ergibt sich daraus für mich? Gibt es kein Interesse? Ist keine Zeit da, ist das Thema falsch? Wir müssen viel mehr mit Feedback in Beziehungen und bei Verhalten arbeiten, da können wir viel voneinander lernen, wenn wir offen für alles sind. Das ist einfach wichtig, Kommunikation ohne Beziehungsebene funktioniert nicht nachhaltig. Und Wissensmanagement ohne Kommunikation ist für mich gar nicht erfolgreich denkbar. Und Erfolg ist einfach sexy.

Orth:

Diese persönlichen Beziehungen aufzubauen, war in der Anfangsphase unseres Projekts sehr wichtig. Denn die Personen, die wir zu Beginn kennengelernt haben, waren am Ende auch diejenigen, die den Prozess begleitet haben. Deshalb kann ich nur unterstreichen, dass die persönliche Kommunikation und das frühe Einbinden aller Beteiligten ganz wichtige Erfolgsfaktoren sind. 

Kesper:

Ich möchte noch ergänzen: Wie bei jeder Veränderung ist es wichtig, dass a) die Not groß genug empfunden wird bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dass b) die »Story« zur Veränderung stimmt. Der gesamte Prozess steht und fällt mit der Kommunikation und dem spürbaren Willen des Managements, diesen bis zum Ende umzusetzen. Deshalb ist es wichtig, klar und sehr zeitnah zu kommunizieren. Die Geschwindigkeit des Veränderungsprozesses spielt ebenfalls eine große Rolle. Wir sollten den Mitarbeitern, wie bereits angesprochen, gemäß ihrer persönlichen Lernplateaus genügend Zeit zum Verstehen und für Verhaltensänderungen lassen. Und sollten sie anregen, ihr Wissen zu teilen. Nach einer gewissen Anlaufzeit werden sie spüren, dass auch sie einen persönlichen Vorteil davon haben.

FUTUR: Eine Frage zum Schluss: Wie kann es gelingen, Wissen zu bewahren, wenn Kompetenzen wegfallen – Stichwort Offboarding?

Orth:

Das war tatsächlich auch ein großes Thema in unserem Projekt. Wie kann ich das Erfahrungswissen einer Person, die 30 oder 40 Jahre im Unternehmen war, erhalten und weitergeben? Hier wäre sicher auch eine GPT-Plattform eine spannende Sache. Statt der klassischen Dokumentation könnte man Interviews führen und dann GPT-Tools über Sprache zu Text damit füttern. Dann könnten Mitarbeitende mit der Wissensbasis ihres Unternehmens chatten und schauen, welche Erfahrung zu einem bestimmten Thema vor­handen sind. Da sind wir noch ganz am Anfang, aber das ist ein spannender Forschungsansatz, um Erfahrungswissen in und für Unternehmen auf eine andere Art zu erfassen und bereitzustellen. Grundsätzlich bin ich aber der Überzeugung, dass beim Offboarding und in Wissenstransferprozessen allgemein eine gute Systematik und die persönliche Kommunikation nach wie vor wichtige Erfolgsfaktoren sind.

Kesper:

Ohne ein generatives KI-Tool zu genehmigten Datenquellen kommt meiner Ansicht nach Wissensmanagement in Zukunft gar nicht mehr aus. Ich denke an der Stelle aber noch weiter: Zukünftig kann das Offboarding komplett eingespart werden, indem Erfahrungswissen unserer Mitarbeitenden kontinuierlich erfasst und über unsere Q & A-Plattform nutzbar verfügbar ist. Dadurch ist das Onboarding neuer Kolleginnen und Kollegen sehr viel schneller abgeschlossen. Wir sollten Wissen, Erfahrungen und Feedback immer zeitnah erfassen, ansonsten können wir uns und unsere Unternehmensleistung nicht verbessern. Und wie schon erwähnt: Erfolg zu haben ist nicht verwerflich.