Der größte Resilienzfaktor ist unser Team

Interview mit Prof. Dr. Helmut Schramm, Leiter BMW Group Werk Berlin

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»Unseren neusten und wichtigsten Anlauf in diesem Jahr, die sogenannte R18 haben wir pünktlich zum SOP gelauncht. Trotz Corona, trotzdem wir kein Vorgängerfahrzeug hatten und trotz der hohen Komplexität des Fahrzeugs.« Prof. Dr. Helmut Schramm

futur: Herr Professor Schramm, BMW hat im Juli deutschlandweit über 50 Prozent mehr Motorräder verkauft als im Vorjahresmonat, weltweit sogar so viele wie nie zuvor. Und das, obwohl Sie aufgrund der Corona-Pandemie im Berliner Werk erst Anfang Mai nach einem sechswöchigen Stopp die Produktion wieder aufgenommen haben. Wie ist Ihnen der schnelle Ramp-up gelungen?

Schramm:

Das ist uns in erster Linie mit den Leuten gelungen, die wir hier an Bord haben. Wir haben ein extrem motiviertes, sehr kompetentes und schlagkräftiges Team, auf das ich wirklich stolz bin. Dieses Team hat innerhalb kürzester Zeit sämtliche Produktionsbereiche im Werk umgestellt, damit wir COVID-19-sicher arbeiten können. Wir haben nicht nur Schichten entkoppelt oder Bänder anders getaktet, sondern auch hunderte Plexiglas-Trennwände gebaut und Türgriffe im 3D-Druck hergestellt – das alles mit unseren eigenen Technologien. Hinzu kommen die pragmatischen und professionellen Handlungsempfehlungen unseres BMW Corona-Handbuchs. Damit waren wir in der Lage, nach dem knapp sechswöchigen Shutdown wieder direkt im Zwei-Schichtbetrieb zu starten und sind jetzt in der glücklichen Situation, dass wir am Kapazitätslimit produzieren.

futur: Welche Elemente in Ihrer Wertschöpfungskette erleben Sie derzeit als kritisch und wie reagieren Sie darauf?

Schramm:

Bei sehr komplexen Produkten wie unseren Motorrädern passiert natürlich eine große Wertschöpfung auf der Lieferantenseite. Wir haben weltweit 900 aktive Lieferanten, unter anderem in Indien, China, Mexiko und Spanien, die alle mehr oder weniger stark von der Corona-Krise betroffen sind. Insofern muss unser Produktionssystem in Summe funktionieren. Und das ist im Moment, das gebe ich offen zu, eine große Herausforderung, weil die Voraussetzungen in den einzelnen Ländern so unterschiedlich sind. Und dennoch: Unseren neusten und wichtigsten Anlauf in diesem Jahr, die sogenannte R18 haben wir pünktlich zum SOP, also zum Start of Production gelauncht. Trotz Corona, trotzdem wir kein Vorgängerfahrzeug hatten und trotz der hohen Komplexität des Fahrzeugs. Das hat dank unserer robusten Technologien – ob Motorenbau, Lackierereien, Rahmenbau oder Karosserie – bestens funktioniert, uns aber auch viel Arbeit und viel Kraft gekostet.

futur: Resilienz gilt als Indikator dafür, ob und wie Unternehmen oder Organisationen schwierige Situationen technologisch, sozial und wirtschaftlich meistern. Was macht BMW widerstandsfähig?

Schramm:

Das größte Gut unseres Werkes sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hier setzen wir auf enge Kommunikationswege, auf Vertrauen, Offenheit, Verantwortung und Wertschätzung. So motivieren wir unser Team, im Fall solcher Katastrophen schnell und bedacht zu reagieren und trotzdem kreative Lösungen zu finden. Das zweite ist unser Geschäftsmodell im Zusammenspiel mit den Lieferanten. Obwohl die Pandemie nicht vorbei ist, zeichnet sich in unserer Lieferkette bereits eine leichte Stabilisierung ab, aber wir sind hier noch lange nicht über den Berg. Deshalb stärken wir unsere Ressourcen in den einzelnen Regionen in Asien, Amerika und Europa, damit wir bei Bedarf sofort lokal eingreifen können. Im Werk Berlin haben wir bereits in den letzten Jahren unsere Prozesse und Technologien dahingehend gestärkt, dass sie stabil und nicht störungsanfällig sind. Auch in puncto Flexibilität und Fertigungstiefe sind wir gut vorbereitet. Wir haben Arbeitszeitmodelle, die es uns erlauben in verschiedenen Schichten sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag zu arbeiten. Das gibt uns ein hohes Maß an Flexibilität, die wir im Übrigen auch mit der Arbeitnehmervertretung abgesichert haben. Hinzu kommt unsere technische Flexibilität: Wir können gemeinsam mit unseren Lieferanten auf Bedarfsschwankungen leicht reagieren, ohne große Redundanzen erzeugen zu müssen. All diese Aspekte erhöhen in Summe die Resilienz von BMW.

futur: Stichwort Digitalisierung: Im Motorradwerk Berlin nutzen Sie Industrie-4.0-Technologien bereits sehr intensiv. Wo sehen Sie noch Potenzial für die Zukunft?

Schramm: 

In Data Analytics steckt ein Potenzial, das wir vielleicht noch gar nicht so richtig kennen. Ich bin mir sicher, dass man hier erst einen gewissen Professionalisierungsgrad erreichen muss, damit man das tatsächlich ausschöpfen kann. Es ist richtig, dass wir viele Industrie-4.0-Standardtechnologien schon nutzen – von der virtuellen Inbetriebnahme von Anlagen über autonom fahrende Roboter bis hin zu einer präventiven Instandhaltung. Wir setzen auch KI-Modelle ein und trainieren unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit 3D-Brillen. Mit Data Analytics, glaube ich, kann man aber noch wesentlich mehr machen. Und wir können, auch im Verbund mit Fraunhofer, bereits etablierte 4.0-Technologien noch einen deutlichen Schritt weiter nach vorne bringen. Ich denke da an unsere Mensch-Maschine-Roboter-Kollaboration in der Montage oder an die Oberflächengestaltung im Feindruck. Das sind Technologien, die wir hier in Berlin entwickeln, zur Serienreife bringen und dann auch in den Pkw-Bereich unseres Konzerns hineintragen.

futur: BMW baut seit 1969 in Berlin-Spandau Motorräder – als einzigem Standort in Deutschland. Welche Rolle hat das Berliner Werk im internationalen Produktionsnetzwerk von BMW?

Schramm:

Im Produktionsnetzwerk BMW Motorrad ist BMW in Spandau das sogenannte Leitwerk, also das führende Werk, sicherlich auch das größte. Zu unserer Organisation gehört ein weiteres Werk in Brasilien und ein Werk in Thailand. Beide sind zwar kleiner, aber sehr flexibel, sehr innovativ und stellen ein breites Spektrum an Motorrädern her. Dann haben wir noch zwei Produktionspartner in Indien und China, die jeweils Einsteigermodelle produzieren. Diese Werke und Partner führen wir von Spandau aus als Produktionsnetzwerk und steuern auch die gesamte Distribution aller Fahrzeuge. Hinzu kommt unsere Rolle im BMW Konzern. Hier stellen wir als Produktionsstandort ein Bindeglied zwischen allen Werken im Produktionsnetzwerk der BMW Group dar. Wir übernehmen zum Beispiel wie schon erwähnt Technologie- und Forschungsprojekte, von denen der ganze Konzern profitiert. Und wir stellen Ressourcen für das Netzwerk bereit. Dazu gehört auch, dass wir bei BMW eine gemeinsame Personalentwicklung betreiben. Darüber haben wir Zugang zu einer Kompetenz, die ist phänomenal. Das ist auch einer unserer Wettbewerbsvorteile.

futur: Welche Erwartungen verbinden Sie mit Berlin als Wirtschaftsstandort für die Zukunft?

Schramm:

Wir sind sehr froh und stolz seit über 50 Jahren hier in Berlin sein zu dürfen. Wir spüren, dass wir ein sehr geschätzter Partner in Berlin sind. Ich sage das mit allem Respekt, denn so etwas muss man sich ja auch erarbeiten und die Stadt ist anspruchsvoll. Die Stadt gibt aber auch sehr, sehr viel und bietet extrem viele Möglichkeiten. Nehmen Sie die Hochschul- und Forschungslandschaft, die ihres Gleichen sucht. Berlin hat auch eine, so finde ich, logistische Attraktivität. Und wir arbeiten sehr konstruktiv mit der Spandauer Lokalpolitik und der Berliner Landespolitik zusammen. Das schätze ich sehr und dafür möchte ich mich auch an dieser Stelle bedanken. Das Wichtigste sind aber auch hier die Menschen, das sind der Style, die Herzlichkeit, die Ehrlichkeit, die Bodenständigkeit, die Kompetenz der Berlinerinnen und Berliner und der Brandenburgerinnen und Brandenburger. Viele von ihnen arbeiten ja bei uns und machen uns als BMW Motorrad aus. Deshalb freut es mich sehr, dass wir die legendären BMW Motorrad Days im nächsten Jahr von Bayern nach Berlin und Brandenburg holen und damit ein weiteres Commitment zur Region abgeben. 

Prof. Dr.-Ing. Helmut-Joseph Schramm

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leitet seit 2017 die weltweite Produktion von BMW Motorrad
sowie das BMW Motorradwerk in Berlin-Spandau. Der promovierte Wirtschaftsingenieur begann seine berufliche Laufbahn als Assistent der Geschäftsführung bei einem mittelständischen Logistikunternehmen in Berlin. Anschließend war er in verschiedenen Fach- und Führungsfunktionen bei der Daimler AG tätig, bevor er 2003 zur BMW Group kam. Hier durchlief er mehrere Stationen in den Bereichen Produktion, Qualitätsmanagement, Logistik, Strategie und Werksstrukturplanung an den Standorten München, Dingolfing und Leipzig. Seit 2004 ist er Honorarprofessor für das Fachgebiet Logistik- und Produktionswirtschaft an der Technischen Hochschule Wildau.